Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
Vater verletzt, er wollte nicht klagen. Früher war ich ein rücksichtsvoller Junge, denkt er. Und warum denke ich jetzt bloß an meinen Vater, der ist doch nicht mehr da, der ist jetzt von allem befreit. Die Leute verschwinden, so wie ich verschwinden werde, und das ist gut so. Das ist wirklich gut, sagt er sich und konzentriert sich auf die Straße. Der Mittelstreifen ist gerade noch zu sehen, der Schneematsch liegt wie ein grauer Brei auf dem Asphalt, die Scheibenwischer mühen sich mit dem feuchten Schnee ab. Aber der Honda läßt ihn nicht im Stich, der Honda ist unübertroffen und zuverlässig. Er hat sich schon im Vorwege einen guten Parkplatz ausgesucht. Das letzte Stück wird er zu Fuß gehen, es sind nur ein paar hundert Meter. In Hamsund gibt es ein stillgelegtes altes Hotel, und auf dessen Hinterhof abgestellte Autos sind von der Straße nicht zu sehen. Er biegt nach rechts ab auf die Landstraße 35, er sieht die Kirche von Hamsund im Flutlicht, er sieht die Grabsteine. Er kommt an einem Opelhändler vorbei, zwei Einkaufszentren, dann rollt er langsam am Bahnhof vorbei, der zu seiner Rechten liegt. Es ist ein sehr schönes Gebäude, es sieht aus wie ein großer Geburtstagskuchen mit Creme und Verzierungen. Er findet es seltsam, daß er jetzt an Kuchen denkt, er findet an diesem Abend alles seltsam, er spielt in einem Film mit. Es herrscht fast kein Verkehr. Die Leute bleiben zu Hause. Dann sieht er das Hotel, das »Fredly« heißt. Ein stattliches weißes Gebäude mit vielen schönen Erkern und schwarzen blinden Fenstern. Er fährt auf den Hinterhof und hält dort an, sein Auto ist hier das einzige. Ein Schild an der Wand gegenüber verkündet, daß unbefugt Parkende abgeschleppt werden, aber er weiß, daß an diesem Abend niemand herkommen wird, bei diesem Schmuddelwetter sitzen alle zu Hause. Dann hört er ein Geräusch. Eine Art Knacken und ein leises Rasseln, er fährt im Auto herum und starrt aus dem Fenster. Kommt da doch jemand? Hat jemand das Auto gesehen? Wieder wird er schrecklich nervös. Ich muß das hier tun, murmelt er in die Dunkelheit. Ich bin nicht ganz ich selbst. Kann nicht irgend jemand mich aufhalten, gibt es eine andere Möglichkeit? Aber es kommt niemand, und es gibt keine andere Möglichkeit. Seine innere Stimme ist dünn, kraftlos. Er schaut zurück auf sein Leben, das ist jämmerlich. Schuld und Verrat, Feigheit. Lug und Trug. Versprechen, die er nicht gehalten hat. Gibt es dort überhaupt etwas Gutes? Inga Lill war gut. Julie ist das Kostbarste, was er besitzt. Er versucht, ruhig zu atmen. Er glaubt, über alles nachgedacht zu haben, aber es ist leicht, etwas zu übersehen, ein Detail, das entscheidend sein und ihn dann schließlich zur Strecke bringen kann. Dieses »zur Strecke bringen« kommt ihm aber trotzdem nicht so beängstigend vor. Es gehört in die Zukunft, und da ist er noch nicht, eigentlich glaubt er nicht an sie. Er lebt im Hier und Jetzt, er tut das, was er tun muß, und die Zeit läuft ihm davon. Das wird er sagen, wenn sie ihn erwischen. Ich mußte das tun, ich sah keinen anderen Ausweg, es ging um mein Leben. Er schaltet den Motor aus. Sitzt im Auto hinter dem stillgelegten Hotel und horcht hinaus in die Dunkelheit. Hört seinen eigenen Atem, er atmet schnell und keuchend. Er sieht auf die Uhr, die Zahlen leuchten grün im dunklen Wageninneren. Er zieht die Blumen aus der Tüte und legt sie sich auf den Schoß. Der Strauß ist schwer und ansonsten eher schlicht, er ist in weißes Papier gewickelt. Was, wenn sie Besuch hat, denkt er, hier kann noch sehr viel schiefgehen. Aber er glaubt nicht, daß Harriet Krohn Besuch hat. Er hat sie beobachtet, ist ihr gefolgt, hat gelauscht, wenn sie mit ihrer besten Freundin im Café saß. Sie ist eine alte, einsame Seele, und bestimmt wird sie nicht sofort die Tür aufmachen. Aber ich bin bewaffnet, denkt er, mit diesen unwiderstehlichen Blumen und einem alten Revolver aus dem Krieg, sie muß tun, was ich ihr sage. Er zieht die Handschuhe an und verläßt das Auto. Schließt ab. Steckt den Revolver in den Hosenbund unter seinem Parka. Horcht wieder hinaus in die Dunkelheit, hört aber nichts, nur seine eigenen Stiefel, die durch den Schneematsch schwappen. Wenn ich nur ins Haus komme, denkt er, als er durch die Dunkelheit geht, ins Haus zu kommen ist das Schwierigste. Alte Leute fürchten sich doch vor so vielen Dingen.
Harriet Krohn geht durch ihr Wohnzimmer.
Die dünnen Knöchel tragen ihr bescheidenes Körpergewicht von
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