Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
viele Fahrten, und dann bin ich auf dem Weg hierher im Schneematsch steckengeblieben. Mit dem Auto.«
Er verdreht vielsagend die Augen.
Harriet zögert noch immer. Etwas scheint am Rande ihres Bewußtseins zu rütteln. Aber natürlich muß sie die Blumen annehmen. Sicher liegt eine Karte bei, eine Erklärung. Aber wenn sie die Blumen annimmt, muß sie die Sicherheitskette entfernen. Das macht sie mit ungeschickten Fingern, öffnet die Tür. Der Mann bleibt höflich oben auf der Treppe stehen. Er bewegt sich nicht, wirkt eher defensiv, fast romantisch, denkt Harriet, wie er mit den Blumen im Schneeregen steht. Sie läßt die Schultern sinken. Sie lächelt und schaut das weiße Paket voller Begierde an.
»Das ist aber nett«, bringt sie heraus. Wieder scheint etwas an ihr zu rütteln, etwas, das sie warnen will. Sie mustert den Mann forschend, sie sieht seine Zähne in dem lächelnden Gesicht, sie leuchten weiß im Lampenlicht. Einer ist beschädigt, das bemerkt sie jetzt, aber auf eine seltsame Weise steht ihm das.
»Ja, nicht wahr?« sagt er und zieht etwas aus der Tasche. Einen zusammengefalteten Zettel.
»Ich muß Sie um Ihre Unterschrift bitten«, sagt er. »Bitte, bestätigen Sie den Empfang.«
Für sie klingt es logisch, daß man den Empfang einer Sendung quittiert. Aber dieser Schneeregen, es ist so naß auf der Treppe, deshalb nimmt sie die Blumen, drückt sie gegen ihr Kleid und tritt einen Schritt zurück.
»Wir machen das drinnen«, sagt sie. »Ohne Unterlage kann ich nicht schreiben. Und ohne Brille auch nicht.«
Sie ist ziemlich aufgeregt. Sie lächelt ihm zu, das Lächeln kommt nicht von Herzen, aber sie hat das Gefühl, ihm Freundlichkeit schuldig zu sein, wo er bei diesem schrecklichen Wetter arbeiten muß, wenn andere im Warmen sitzen. Er lächelt zurück, und noch einmal hat Harriet dieses Gefühl, daß etwas an ihr rüttelt. Aber die Angst muß dem weichen, was jetzt geschehen wird. Sie spürt das Gewicht der Blumen in ihren Armen, es ist ein großer Strauß. Sie kommt sich plötzlich wichtig vor. Sie denkt, das wurde aber auch Zeit. Ich habe mich ein ganzes Leben lang abgemüht, ich verdiene Aufmerksamkeit. Kann es einer von den Männern im Seniorenzentrum sein, wo sie ab und zu mit Mosse essen geht? Ein Stammgast aus dem Café? Einer, der sie heimlich beobachtet, der träumt, kann das in meinem Alter noch passieren? Bei diesen Gedanken muß sie sich die Haare glattstreichen. Sie kehrt ihm den Rücken zu und geht in die Küche, Charlo geht hinterher. Seine Stiefel hinterlassen feuchte Flecken auf dem Linoleum, ich muß gleich wischen, wenn er weg ist, denkt sie, sonst kann ich ausrutschen und mir den Oberschenkelhals brechen, und das darf nicht passieren, es geht mir ohnehin schlecht genug. Alles ist schon lange schlimm, aber jetzt passiert etwas Schönes, sie fühlt sich auf ungewohnte Weise erregt. Daß man von so etwas plötzlich und unerwartet glühende Ohren bekommen kann! Sie will ihre Brille holen, die liegt im Wohnzimmer auf der Schreibtischplatte.
»Sie müssen entschuldigen«, sagt sie noch einmal, »aber ohne Brille kann ich nichts sehen.«
Charlo nickt. Er schweigt, sein Gesicht wirkt mit einem Mal sehr ernst, wie versteinert, als ob er erstarrt ist. Er schaut sich in der Küche um, rasche, verstohlene Blicke, das kann Harriet nicht sehen, sie ist unterwegs ins Wohnzimmer. Charlo wartet, während sein Herz hämmert, es kommt ihm vor wie mehrere Herzen, die ein Wettrennen veranstalten. Auf dem Boden neben der Sitzbank steht eine Schale. An der Decke leuchtet eine bunte Lampe. Es ist erbärmlich warm in der Küche, die Hitze steigt in ihm hoch. Er weiß, was er zu tun hat, aber plötzlich ist er unschlüssig. Harriet schlurft über den Boden, um ihre Brille zu holen. Er reißt sich zusammen, findet wieder auf sein Gleis zurück, er muß sich konzentrieren, seinem Plan folgen. Harriet bringt ihre Brille. Sie trägt ein schlichtes grünes Kleid, ihre Haare sind zerzaust und ungepflegt. Er will sie nicht zu genau ansehen, will sich nicht an ihr Gesicht erinnern. Gut, sie ist alt, aber ihre Augen sind scharf. Ihm geht auf, daß er jetzt im Haus ist, er muß bald zur Tat schreiten. Deshalb läuft er in die Diele. Harriet sieht ihn verschwinden und versteht gar nichts mehr. Sie hört ein Geräusch, ein vertrautes Klicken, und begreift, daß er die Tür von innen abgeschlossen hat. Sie bleibt stehen und starrt ungläubig hinter ihm her, es hat ihr die Sprache verschlagen, sie nimmt das
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