Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
neunundvierzig Kilo, die Waden biegen sich wie alte Zweige. Die Adern liegen dicht unter der Haut und sind als knotige Verzweigungen sichtbar, trotz der dicken Strümpfe. Es ist ihr letzter Tag, ihre letzte Stunde auf Erden. Sie hört die Wanduhr ticken. Draußen auf der Straße ist alles still. Sie setzt sich an ihren Wohnzimmertisch und ißt eine Scheibe Brot mit Leberwurst. Sie hat das Brot mit roter Beete belegt, sie achtet sehr auf ihre Ernährung. Zum Brot trinkt sie Tee mit etwas Zucker. Sie nimmt den frischen Geschmack der roten Beete wahr, er vermischt sich mit dem süßen des Tees. Sie unterbricht ihre Mahlzeit für einen Moment. Ein Korn steckt zwischen zwei Backenzähnen fest und scheint sie auseinanderdrücken zu wollen. Sie versucht, einen Nagel zwischen ihre Zähne zu bohren und das Korn zu befreien. Aber es ist unmöglich, ihr Nagel ist zu dick. Sie braucht einen Zahnstocher, will aber zuerst essen und danach aufräumen. Bei ihr liegt nichts herum, alles wird sofort weggeräumt. Sie kaut lange und umständlich, weil das gut für die Verdauung ist, und als sie fertig ist, trägt sie Tasse und Teller in die Küche. Wischt die Krümel ins Spülbecken, füllt die Tasse mit Wasser und Spülmittel. Danach legt sie buntes Konfekt in eine Schale und stellt sie auf den Wohnzimmertisch. Das ist eher als Dekoration gedacht, ihr gefallen die Farben. Es ist zu früh, um schlafen zu gehen. Es ist erst zehn, und sie langweilt sich. Irgendwie muß sie den Abend hinter sich bringen, und im Fernsehen gibt es nichts Interessantes. Sie ist unzufrieden. Nichts, worauf sie sich freuen kann, nichts Erfreuliches steht ihr bevor. Nur das Alter und eine ständig zunehmende Schwäche. Bald wird sie sechsundsiebzig, aber sie kommt sich viel älter vor. Sie ist gut versorgt und besitzt Familiensilber und nicht wenig Geld, aber sie hat keine Kraft, um das alles zu nutzen, weder für sich noch für andere. Sie beschließt, einen Brief zu schreiben. Sie hat einen Neffen in Deutschland, mit dem sie regelmäßig Kontakt hat. Briefeschreiben ist etwas Lustbetontes, und so kann sie die letzte Stunde herumbringen. Sie geht immer um elf Uhr schlafen. Im Wohnzimmer steht eine alte Kommode mit einer ausklappbaren Schreibtischplatte, so daß sie dort einen gemütlichen kleinen Arbeitsplatz hat. Sie schaut aus dem Fenster, sieht den dichten Schneeregen. Im Wohnzimmer ist es warm, sie hat alle Heizkörper voll aufgedreht. Obwohl sie eine schmächtige Frau ist, bewegt sie sich nur schwerfällig. Sie war erst dreizehn Jahre, als bei ihr Gelenkrheumatismus diagnostiziert wurde. Ihr Leben lang hat sie gekämpft, um diese Krankheit in Schach zu halten. Es ist trotzdem ein guter Abend, die Schmerzen könnten viel schlimmer werden als an diesem Abend, dem 7. November. Es gibt Tage, an denen sie einfach nur im Bett liegt und sich bemitleidet. Ihr Schicksal verflucht, das soviel härter ist als das von anderen. Vor Verbitterung wird ihr heiß, sie muß diese Gefühle zu Papier bringen. Sie schaltet die Lampe neben der Kommode ein, die wärmt ihr die linke Wange. Sie sieht den Mann nicht, der die Straße hochkommt, sie hat einen Briefbogen hervorgeholt. Sie sucht ihre Brille, setzt sie auf, setzt den Kugelschreiber aufs Papier. Es ist ein fast andächtiger Moment für Harriet Asta Krohn. Das weiße Papier, unberührt, alles, was sie auf dem Herzen hat. Der Kugelschreiber will in ihrer Hand nicht still liegen, sie zittert vor Anstrengung. Aber sie weiß aus Erfahrung, sowie die Hand auf das Papier auftrifft, kommt sie zur Ruhe. Dann hat sie Kontrolle über ihre Muskeln und eine durchaus brauchbare Handschrift mit feinen, dünnen Schnörkeln. Obwohl sie weiß, daß die Hand wieder zittern wird, wenn der Brief sich dem Ende nähert, weil dann die Schmerzen zu stark werden. Die Wohnzimmeruhr tickt, Harriets Herz schlägt. Noch schlägt es, das Blut strömt durch ihren gebrechlichen Körper, sie ist warm, sie ist satt. Doch dann bemerkt sie wieder das Korn, das zwischen ihren Zähnen drückt. Sie hat vergessen, sich einen Zahnstocher zu holen, und jetzt will sie nicht mehr. Sie denkt, das hat doch Zeit bis nachher.
Charlo steht unten an der Treppe.
Niemand hat ihn durch das Tor gehen sehen. Harriet nimmt seine Anwesenheit nicht wahr, obwohl er nur wenige Meter von ihr entfernt steht. Sie hat immer allein gelebt, und einen großen Teil ihres Lebens hat sie in diesem Haus verbracht. Sie kennt alle Geräusche, jedes Knacken des alten Holzes, den Fliederbusch,
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