Der Mord zum Sonnntag
Schiebetür und öffnete sie. Unten am
Strand sah sie Eltern mit Kindern umherwandern. Falls sie
jemals ein normales Leben führen wollte, mit Mann und
Kind, mußte sie ihren Namen reinwaschen.
Jeff Knight. Sie hatte ihn voriges Jahr kennengelernt, bei
den Dreharbeiten für eine Fernsehserie über weibliche
Strafgefangene, die er interviewte. Seine Aufforderung,
dabei mitzuwirken, hatte sie rundweg abgelehnt. Er ließ
nicht locker, sein intelligentes, energisches Gesicht verriet
besorgte Anteilnahme. «Verstehen Sie das denn nicht,
Cynthia, dieses Programm wird von Millionen Menschen
in Neuengland gesehen. Die Frau, der Sie damals nachts
kurz begegnet sind, könnte doch zu den Zuschauern
gehören.»
Deshalb hatte sie mitgemacht, seine Fragen beantwortet,
von der Nacht berichtet, in der Stuart umkam, die
Porträtskizze der Frau, mit der sie gesprochen hatte, vor
die Kamera gehalten, ebenso die Zeichnung von der
Imbißstube. Und niemand hatte sich gemeldet. Lillian gab
in New York eine Erklärung ab: Die während des
Prozesses gemachten Aussagen beruhten auf Wahrheit,
denn dem hätte sie nichts hinzuzufügen. Ned Creighton,
jetzt Inhaber vom Mooncusser, einem beliebten Restaurant
in Barnstable, wiederholte, wie unendlich leid es ihm um
Cynthia täte.
Nach der Sendung erschien Jeff weiterhin regelmäßig an
den Besuchstagen. Das allein rettete sie davor, in völlige
Verzweiflung zu verfallen, als jedes Echo auf die Serie
ausblieb. Er kam jedesmal in einem etwas nachlässigen
Aufzug daher, die Jacke spannte an den breiten Schultern,
die wirre dunkelbraune Mähne mit den Stirnlocken, die
freundlichen, ausdrucksvollen braunen Augen, die langen
Beine, die in dem überfüllten Besuchsraum keinen Platz
fanden. Als er sie bat, nach der Entlassung seine Frau zu
werden, antwortete sie, daran sei überhaupt nicht zu
denken. Er bekam bereits Angebote von den
verschiedenen Sendern. Eine überführte Mörderin konnte
er da wirklich nicht gebrauchen. Sie durfte seiner Karriere
nicht im Weg stehen, er mußte sie vergessen.
Aber wenn ich nun nicht des Mordes überführt wäre,
dachte Cynthia, als sie sich vom Fenster abwandte. Sie
ging hinüber zu der Frisierkommode aus Ahornholz,
suchte ihre Geldtasche und eilte nach draußen zu ihrem
Mietwagen.
Sie kehrte erst am frühen Abend nach Dennis zurück.
Die Enttäuschung über die vergeudeten Stunden trieb ihr
Tränen in die Augen. Sie trocknete sie nicht, ließ sie
ungehindert die Wangen hinunterrollen. Sie war nach
Cotuit gefahren, in der Hauptstraße umhergelaufen, hatte
den anscheinend alteingesessenen Inhaber des Buchladens
nach einem auf Hamburger spezialisierten Lokal gefragt,
das ein Treffpunkt für Teenager war. Wo könnte sie so
etwas finden? Achselzucken, dann die Antwort: «Die
schießen wie Pilze aus dem Boden und verschwinden
ebenso schnell wieder. Ein Bauunternehmer reißt sich ein
Grundstück unter den Nagel, stellt ein Einkaufszentrum
hin oder sonst was Klotziges, und der Hamburger-Laden
fliegt raus.» Danach hatte sie versucht, im Rathaus die
Restaurationsbetriebe zu ermitteln, denen 1977 eine
Konzession erteilt oder verlängert worden war. Es
existierten noch zwei in Frage kommende Lokale, das
dritte hatte man entweder umfunktioniert oder abgerissen.
Keins davon weckte bei ihr irgendeine Erinnerung. Und
natürlich wußte sie nicht einmal genau, ob sie tatsächlich
in Cotuit gehalten hatten. Ned könnte auch in diesem
Punkt gelogen haben. Und wie erkundigte man sich wohl
bei fremden Leuten, ob sie eine Frau in mittleren Jahren
mit orangefarbenem Haar und untersetztem Körperbau
kennen, die vierzig Jahre am Kap ständig oder den
Sommer über gewohnt hatte und Rock-and-Roll-Musik
haßte?
In Dennis folgte Cynthia einem Impuls und bog nicht zu
ihrem Ferienhaus ab, sondern fuhr wieder an Richards’
Villa vorbei. Als sie dort passierte, kam eine schlanke
blonde Frau die Treppe hinunter. Selbst auf diese
Entfernung erkannte sie Lillian. Cynthia reduzierte auf
Schrittempo, beschleunigte jedoch gleich wieder, als
Lillian in ihre Richtung blickte, und kehrte um. Beim
Aufschließen ihrer Haustür hörte sie das Telefon klingeln.
Es läutete zehnmal, ehe es verstummte. Das mußte Jeff
gewesen sein, und mit ihm wollte sie nicht sprechen. Nach
wenigen Minuten schrillte es erneut. Wenn Jeff tatsächlich
die Nummer herausgefunden hätte, würde er garantiert
nicht lockerlassen, bis er sie erreichte.
Cynthia nahm den
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