Der Musentempel
was noch kommen sollte.
Doch wir verbrachten jenen Abend in seliger Unkenntnis solcher Intrigen. Wir waren von der lästigen Politik befreit und hatten jede Menge Zeit und ganz Alexandria zur Verfügung, um uns zu amüsieren.
III
»Das Museion«, sagte ich, »wurde vor zweihundertfünfunddreißig Jahren von Ptolemaios I., genannt Soter,>der Retters gegründet.« Ich hatte einen Fremdenführer bestochen, mir seine Sprüchlein bei zu bringen, und sagte es jetzt auf, während Julia und ich die Stufen zur Haupthalle hinaufstiegen. »Es wurde geplant und geleitet von dem ersten Bibliothekar Demetrios von Phaleron. Die Bibliothek selbst genießt weltweiten Ruhm und ist eigentlich ein Anbau des Museions. Seit Demetrios hat eine ununterbrochene Folge von Bibliothekaren die Institution und seine Sammlung gepflegt. Die Nachfolger von Demetrios waren Zenodot von Ephesus, Kallimachos von Kyrene, Apollonios von Rhodos, Eratosthenes von Kyrene, Aristophanes von Byzanz, Apollonius von Perge, Aristarchos von Samothrake...«
»Ich kann auch lesen, Decius«, unterbrach mich Julia auf halber Strecke durch die Genealogie.
»Aber ich habe noch gut hundert Jahre Bibliothekare vor zutragen«, protestierte ich. Es war eine beträchtliche, kurzfristige Gedächtnisleistung gewesen, doch man hatte uns jungen Adeligen Roms solch stumpfsinniges Auswendiglernen von frühester Jugend an eingebleut.
»Ich habe unterwegs alles Verfügbare über das Museion und die Bibliothek gelesen. Zwischen zwei Schüben von Seekrankheit kann man eine Menge lernen.«
Nachdem wir die Stufen erklommen hatten, führte unser Weg zwischen zwei gigantischen Obelisken hindurch. Dahinter lag ein Hof, der mit poliertem purpurnen Marmor gepflastert war und von wunderschönen Statuen von Athena, Apollo und Hermes beherrscht wurde. Die größten Gebäude des Museionkomplexes waren um diesen Hof gruppiert: die Bücherei, der prachtvolle Speisesaal der Gelehrten und der Tempel selbst, ein bescheidenes, aber erlesenes Bauwerk, das den Musen geweiht war. Dahinter lagen zahlreiche weitere Gebäude: Wohnquartiere, Vorlesungssäle, Observatorien, Säulengänge und so weiter. Julia stieß fortgesetzt kleine Entzückensschreie über die architektonischen Wunderwerke aus. Und wenn man ehrlich war, gab es in Rom nichts annähernd Vergleichbares. Nur das Capitol hatte etwas vom Glanz der großen Bauwerke Alexandrias, obwohl der Circus maximus ein gutes Stück größer war als das Hippodrom. Aber das Hippodrom war aus Marmor, während der Circus zum Großteil noch immer aus Holz bestand.
»Das ist wahrhaft erhaben«, sagte sie aufgeregt.
»Genau das Wort, das ich auch gewählt hätte«, versicherte ich ihr.
»Die Vorlesungssäle und die Mensa«, sagte sie. »Ich möchte die Gelehrten bei ihrer philosophischen Arbeit sehen.«
Irgend jemand mußte unsere Ankunft gemeldet haben, denn in diesem Moment tauchte Amphitryon auf. »Es wäre mir ein großes Vergnügen, unsere vornehmen Gäste zu führen. Das Museion steht zu eurer Verfügung.«
Das letzte, was ich brauchen konnte, war ein verstaubter Grieche, der sich zwischen mich und Julia drängte, aber sie klatschte in die Hände und rief begeistert, wie glücklich wir uns schätzen würden. Somit einer eleganten Möglichkeit, dieser unerwünschten Begleitung zu entkommen, beraubt, blieb mir nichts anderes übrig, als den beiden in das große Gebäude zu folgen. In der Eingangshalle wies er auf Reihen von Namen, die in die Wände graviert waren.
»Hier seht ihr die Namen aller Bibliothekare und der berühmten Gelehrten und Philosophen, die dieses Museion seit seiner Gründung mit ihrer Anwesenheit geschmückt haben. Und hier sind die Porträtbüsten der bedeutendsten von ihnen.« Hinter dem Peristyl erstreckte sich eine anmutige Kolonnade um einen Teich mit einer Skulpturengruppe, die Orpheus darstellte, der mit seinem Gesang die wilden Tiere besänftigte.
»Die Wandelhalle der peripatetischen Philosophen«, erläuterte Amphitryon. »Sie ziehen es vor, während ihrer Gespräche und Darlegungen zu gehen, wofür man ihnen diese Kolonnade zur Verfügung gestellt hat. Der Orpheus ist eine Skulptur desselben Künstlers, der auch die berühmte Gigantomachie am Zeusaltar von Pergamon geschaffen hat.«
Das entlockte auch mir bereitwilligst Bewunderung. Die Skulptur war ein vollendetes Beispiel der späten griechischen Bildhauerei, die ich den kraftlosen Werken des perikleischen Athens mit seinen schlaffen Apollos und seinen übermäßig
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