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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Stirnband wieder abnahm und neben sich aufs Kopfkissen legte, veränderte sich die Farbe von Grün zu Rot. Die Aufzeichnung endete, sobald die Kamera in Ruheposition verharrte.
    Leon stand auf und ging zum Sekretär.
    Mit einer nervösen Mausbewegung ließ er den Bildschirmschoner verschwinden und öffnete das Wiedergabefenster des Videoplayers. Die kurze Aufnahme hatte gerade einmal das Volumen von einem Megabyte und startete sofort nach dem Mausklick.
    Leon starrte auf die wenigen Bilder, die seine Kopfbewegungen eingefangen hatten, und ihn überkam ein irritierendes Gefühl, vergleichbar dem, das sich einstellt, wenn man zum ersten Mal die eigene Stimme über Kopfhörer hört. Er sah seine Bettwäsche, verfolgte den Kameraschwenk über den Bauernschrank zu dem Monitor, der auf der Aufnahme fiebrig flackerte, und fühlte sich fremd in seiner gewohnten Umgebung.
    Um später nicht von der aufgehenden Sonne geweckt zu werden, ließ er das Rollo vor dem Fenster herunter und zog die Vorhänge zu. Die Kamera hatte eine Infrarotaufnahmefunktion und verfügte über einen Restlichtverstärker, der um einiges sensibler war als das klobige Monstrum, das ihm Dr. Volwarth vor vielen Jahren aufgesetzt hatte.
    Trotz Jeans und dickem Sweatshirt war ihm kalt vor Übermüdung, und er überlegte, ein Bad zu nehmen, um die nötige Ruhe zu finden, die er zum Einschlafen brauchte. Allerdings befürchtete er, dass auch das Schaumbad das Gedankenfeuerwerk in seinem Kopf nicht abstellen würde. Schließlich trank er ein Glas Rotwein und zog sich ein dickes, mit einer gummierten Noppensohle ausgestattetes Paar Socken über. Dann setzte er sich das Stirnband mit der Kamera auf, legte sich ins Bett und wartete darauf, dass ihm endlich die Augen zufielen.

9.
    L eon war schon immer ein Grübler gewesen. Während Natalie sich selbst nach einem heftigen Streit einfach umdrehen und einschlafen konnte, lag er oft stundenlang wach, starrte an die Decke und versuchte, den Dingen auf den Grund zu gehen.
    Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sich in einem ähnlichen, fast schizophrenen Schwebezustand befunden hatte, in dem der Körper nach Schlaf, der Geist aber nach Antworten schrie. Es war nach dem missglückten Abendessen gewesen, an dem er zum ersten Mal Natalies Eltern kennenlernen durfte.
    Leon war ohne Familienanhang in das teure italienische Restaurant gekommen, dessen Wände wie die Fotowand eines Gesellschaftsmagazins aussahen: jeder Zentimeter mit Bildern prominenter Gäste bestückt – Politiker, Sänger, Schauspieler, Künstler. Alle breit grinsend, Arm in Arm mit dem Besitzer, als wäre er ihr bester Freund und nicht ein cleverer Geschäftsmann, der mit diesen Schnappschüssen hauptsächlich seine Eitelkeit befriedigte.
    Leon hatte sich von Anfang an unwohl gefühlt. Nicht wegen des teuren Ambientes, sondern weil er ein Feigling war, der seine Eltern verleugnete. Im Gegensatz zu Natalies Vater Hector konnte sich Klaus Nader mit seinem Gehalt als Aushilfskellner keine in der Saville Row geschneiderten Maßanzüge leisten. Er würde den Wein nicht nach dem Geschmack, sondern nach dem Preis auswählen, wenn überhaupt. Wahrscheinlicher war, dass er lachend nach einer Karte fragte, in der die Preise nicht in Türkischer Lira angegeben waren.
    Und worüber hätten sie sich unterhalten sollen? Wohl kaum über die Frage, ob man besser in Florida oder auf Mauritius die Wintermonate verbringen sollte, um dem schlechten Wetter zu entfliehen. Maria Nader war froh, wenn im Januar die Oberleitungen der Straßenbahn nicht einfroren, und sie machte sich mehr Gedanken, ob das Sonderangebot aus der Zeitungsbeilage noch am nächsten Tag erhältlich war, als darüber, weshalb Platz 4 C in der First Class bei Emirates der beste war. Ein einziges Mal waren seine Pflegeeltern, die ihn kurz vor seinem sechzehnten Lebensjahr adoptiert hatten, erste Klasse gereist. Und das war mit der Bahn gewesen, und auch nur, weil sie versehentlich in den falschen Waggon gestiegen waren.
    Dabei begann der Abend nicht so steif wie von Leon befürchtet. Hector und Silvia Lené sahen zwar aus, als wären sie einem Werbeprospekt für luxuriöse Altersruhesitze entsprungen: vital, schmuckbehangen, sonnengebräunt und vor Energie strotzend, dennoch unverkennbar im Herbst ihres Lebens stehend. Aber Hector lockerte die Atmosphäre durch humorvolle und geistreiche Anekdoten auf, die sich erstaunlicherweise weder um Geldanlagen, Zweitwohnsitze noch um seine

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