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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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aufsetzte, wusste Leon eine Zeitlang nicht, wo er war. Normalerweise wurde er vom Licht des Aquariums geweckt. Heute war die Dunkelheit, die ihn beim Aufwachen umgab, derart intensiv, dass er darin die Orientierung verlor.
    Im ersten Moment glaubte er, wieder in einer Schlaflähmung gefangen zu sein und die vergeblichen Versuche, in der Finsternis nach einer Lichtquelle zu tasten, zu träumen.
    Wohin Leon die Hand auch streckte, er griff ins Leere.
    Natalie, wo bist du?, war sein erster klarer Gedanke, als ihm bewusst wurde, dass er alleine im Bett lag.
    Und weshalb fühlt sich das Laken so komisch an?
    Er strich mit den Fingern über den Stoff und vermisste den warmen Abdruck, den ihr Körper üblicherweise im Schlaf hinterließ. Wo war nur ihr vertrauter Geruch geblieben, eine Mischung aus frischem Heu und grünem Tee, den er selbst Stunden, nachdem sie aufgestanden war, noch riechen konnte?
    Im Augenblick schmeckte er nur seinen eigenen abgestandenen Atem, und das Laken fühlte sich ungewöhnlich glatt an. Stumpf.
    Und taub.
    Genau. Taub. Das war das richtige Wort.
    Leon krallte die Finger in den Stoff, zog sie zur Faust zusammen, und mit der Trägheit, in der seine Augen sich an das geringe Dämmerlicht im Schlafzimmer gewöhnten, kam die Erinnerung zurück, warum er alleine aufgewacht war.
    Und weshalb in einiger Entfernung ein kleines rotes Lämpchen blinkend im Raum schwebte.
    Ruckartig setzte er sich auf und rieb sich die Augen.
    Der Computer. Die Aufnahme.
    Leon griff sich an die Stirn, aber die Kamera war verschwunden.
    Also doch nur ein Traum? Aber wieso blinkt dann der USB-Stick?
    Er rollte sich nach links und tastete auf dem Nachttisch herum, bis er den Schalter seiner Leselampe fand. Als er sie anschaltete, schrie er auf.
    Es war ein kurzer, unbeabsichtigter Reflex, für den er sich in Natalies Gegenwart geschämt hätte, aber er konnte sich nicht erinnern, sich jemals in seinem Leben zuvor so sehr erschreckt zu haben.
    Nicht, als er im Alter von elf Jahren mit dem Messer in der Hand neben dem Kinderbett durch die Schreie von Adrians Mutter geweckt worden war. Nicht, als er sich zum ersten Mal selbst in Dr. Volwarths Praxis beim Schlafwandeln beobachtet hatte.
    Keine seiner Therapiesitzungen war jemals so verstörend gewesen wie dieser Moment, als er jetzt die eigenen Hände betrachtete: Sie steckten in blassgrünen, elastischen Latexhandschuhen.
    Was zum Teufel …?
    Im Licht der Leselampe starrte er auf seine Finger wie ein Wahnsinniger, dem in einem lichten Moment bewusst wird, dass er mit diesen Händen gerade ein Verbrechen begangen hat.
    Deshalb hatte er das Laken als taub empfunden!
    Deshalb fühlen sich meine Hände so an, als gehörten sie nicht zu meinem Körper!
    Angewidert riss er sich die Chirurgenhandschuhe von den Fingern und warf sie neben das Bett. Der Gummizug hatte tief in die Pulsadern eingeschnitten, und die Fingerkuppen waren verschrumpelt, als hätte er zu lange in der Badewanne gelegen.
    Er schlug die Bettdecke zurück und kroch aus dem Bett. Ihm war noch kälter als vor dem Einschlafen, und er hatte das Gefühl, nicht eine Sekunde lang geschlafen zu haben, doch der Blick auf seine Uhr auf dem Nachttisch belehrte ihn eines Besseren: Vierzehn Stunden waren vergangen.
    Was ist in dieser Zeit alles geschehen?
    Auf dem Weg zu seinem Laptop entdeckte Leon das Stirnband mit der Kamera. Es lag neben dem Schrank auf dem Boden, und er widerstand seinem ersten Impuls, die Kamera aufzuheben und sich wieder aufzusetzen.
    Ein beängstigender Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Das ist ein Tatort, du darfst hier nichts verändern.
    Nur beobachten!
    Leon wischte einige achtlos abgelegte Kleidungsstücke von der Sitzfläche und setzte sich auf den schweren Metallstuhl vor dem Sekretär. Er klappte den Laptop auf und wurde von dem Licht des Monitors geblendet. Mit zusammengekniffenen Augen öffnete er die Wiedergabesoftware. Seine Finger auf der Tastatur fühlten sich unangenehm trocken an und waren noch mit den Resten des Talkumpuders der Handschuhe bedeckt.
    Sein rechtes Augenlid begann zu zittern, ein Reflex, den Leon nicht kontrollieren konnte. Er lenkte den Zeiger der Maus auf den Wiedergabebutton, und nach Sekunden des Zögerns klickte er schließlich darauf.
    Ein Eingabefeld tauchte auf und verlangte nach dem Passwort, das Leon gestern eingerichtet hatte. Er gab vier Ziffern ein, und die Aufnahme startete. Zunächst sah er nur Schatten, und das beruhigte ihn ein wenig. Auch wenn er sich

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