Der Nachtwandler
erschöpfter fühlte als vor dem Einschlafen, hatte sein Körper unverkennbar einige Traum- und Tiefschlafphasen erlebt, in denen er sich so unruhig im Bett umhergewälzt hatte, dass die bewegungsaktive Kamera angesprungen war.
In den für eine Nachtsichtkamera typischen graugrünen und leicht körnigen Bildern konnte er erkennen, wie er die Decke mit den Füßen zum Bettende strampelte, sie wieder hochzog und wie er das große Kopfkissen erst wie eine Rettungsboje umklammerte, um es nur Minuten später von sich zu stoßen.
Da die Kamera immer nur in den Bewegungsphasen aufnahm, hatte sie in den ersten zwei Stunden des Schlafes nicht einmal zehn Minuten festgehalten, und Leon hoffte schon, dass die Dokumentation seiner Nachtaktivität bis zum Ende des Videofiles genauso unspektakulär bleiben würde – als der Timer in der rechten unteren Bildecke die 127. Minute anzeigte.
Es begann harmlos. Und auch wenn Leon diese Bilder erwartet hatte, waren sie ein Schock.
Plötzlich, mit einem Ruck, hatte sich die Perspektive verändert. Leon musste sich im Schlaf aufgesetzt haben, und jetzt sah er sich um. Langsam, als betrachte er den Raum zum ersten Mal und wollte sich jede Einzelheit darin einprägen, wanderte die Kopfkamera von links nach rechts. Waren die Bilder zuvor noch unruhig und flackernd gewesen, war es jetzt, als wäre die Kamera auf einem Stativ befestigt.
Wie ein Roboter, dachte Leon und erinnerte sich, dass derartig gleichmäßige, mechanische Bewegungen typisch waren für einen Nachtwandler. Die meisten streiften wie leblose Hüllen, von einem unsichtbaren Band gezogen, umher, und Leon war sich sicher, dass ihr Anblick nicht selten Assoziationen mit Zombies und Untoten weckte. Auch seine Handlungen schienen fremdbestimmt.
Er erschrak vor der subjektiven, durch Kameraschatten verwaschenen Perspektive, als er im Profil an dem Wandspiegel neben der Tür vorbeiging. Mit dem technischen Instrument auf dem Kopf erinnerte ihn sein Anblick an die schrecklichen Fotos von Affen in Tierversuchslaboratorien, denen man den Schädel geöffnet hat, um ihre Hirnaktivitäten zu vermessen. Nur, dass er nicht wie diese armen Geschöpfe in eine Schraubzwinge geklemmt war, sondern sich frei, wenn auch unbewusst, bewegen konnte.
Auf dem Monitor wurde es kurz dunkel, zwei Schritte später befand er sich auf Natalies Bettseite, was er an dem Fotoband über unterirdische Bunkerwelten erkannte, der auf ihrem Nachttisch lag.
Leon drehte sich um und glich die Aufzeichnung mit der Gegenwart ab. Der Bildband lag immer noch an der Stelle, exakt wie auf dem Video zu sehen.
Aber die Schublade steht offen!
In dem Augenblick, in dem er sich wieder dem Monitor zuwandte, wanderte Leons rechte Hand in das Blickfeld der Kamera. Mit angehaltenem Atem sah er sich selbst dabei zu, wie er Natalies Schublade aufzog und ein Paar Latexhandschuhe hervorholte.
Wieso, um Himmels willen, bewahrt sie so etwas in ihrem Nachttisch auf?
Leon beugte sich nach vorne und packte den Monitor des Laptops mit beiden Händen, als wollte er ihn schütteln. Hätte jemand an der Haustür geklingelt, er hätte es nicht gehört. Man hätte schon einen Feuerwerkskörper direkt neben seinem Ohr zünden müssen, um seine Aufmerksamkeit von den Geschehnissen auf dem Bildschirm abzulenken.
Er war sich nicht sicher, ob sein Gehirn die Folge der Bilder bewusst ausbremste oder ob er sich wirklich so langsam, fast bedächtig, die Handschuhe überstreifte, wie es auf der Aufnahme den Anschein hatte.
Leon versuchte, die Lautstärke zu regeln. Dann fiel ihm ein, dass er gestern in der Aufregung ganz vergessen hatte, die Mikrofonsoftware zu aktivieren. Daher hörte er das Knautschen und das Schnappen der Gummizüge nur in seinen Gedanken. Auch sonst war die Aufnahme völlig geräuschlos. Keine Schritte, kein Atmen, kein Rascheln, während er durch das Schlafzimmer schlurfte.
Wohin will ich?
Leon tastete, den Blick weiterhin starr auf den Monitor gerichtet, nach den Haussocken an seinen Füßen und zuckte zusammen, als seine Finger einen Klumpen angetrockneter Erde zwischen den Noppen der laminierten Sohle lösten.
Wo bin ich gewesen?
Leon sah sich langsam, aber zielstrebig auf den Bauernschrank zumarschieren, aus dem Natalie an jenem Morgen weinend ihre Sachen zusammengeklaubt hatte. Anstatt ihn zu öffnen, wie Leon vermutet hatte, blieb er eine Zeitlang reglos vor seinen Türen stehen. So lange, dass die Kamera mangels Bewegung für einen Moment sogar stoppte. Dann
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