Der Nachtwandler
Sammelleidenschaft für Oldtimer drehten. Er beschwerte sich sogar über die gepfefferten Preise, rollte die Augen angesichts der kleinen Portionen, und Leon schämte sich noch mehr als zuvor, seine Eltern mit einer billigen Ausrede entschuldigt zu haben. Vermutlich hätten sie sich doch alle gut verstanden; wahrscheinlich war er der einzige Snob hier am Tisch, der nicht zu den Menschen stand, die ihn bedingungslos liebten. Obwohl die Naders Leons Interesse für Architektur nicht teilten und selbst nie eine Universität besucht hatten, verzichteten sie auf ein Auto, Urlaube und andere Annehmlichkeiten, nur um ihm das Studium zu finanzieren.
Ihm wurde schlecht, als er erkannte, wie schäbig er sich an diesem Abend benahm und wie groß sein Verrat war. Leon konnte sich noch so sehr einreden, er habe seinen Eltern nur die Peinlichkeit ersparen wollen, die Rechnung bezahlen zu müssen (ihr Stolz hätte es ihnen verboten, ihrem Sohn den Vortritt zu lassen), aber in Wahrheit wusste er, dass er sich seiner Herkunft schämte und deshalb eine billige Ausrede vorgeschoben hatte, weshalb Mama und Papa heute leider unpässlich seien.
Er hatte sich bereits vorgenommen, den Fehler wiedergutzumachen und schnell eine Gegeneinladung auszusprechen, als etwas passierte, was ihm glasklar vor Augen führte, dass es kein weiteres Treffen geben würde. Nicht mit seinen Eltern. Nicht mit ihm. Nie wieder.
Es geschah auf der Toilette. Leon stand am Pissoir, als Hector eintrat und sich fröhlich summend an das Becken neben ihm stellte. Leon konzentrierte sich gerade darauf, die als Zielscheibe aufgeklebte Fliege zu treffen, als Hector das Wort an ihn richtete. »Sie hat’s gerne dreckig.«
»Wie bitte?«
Hector zwinkerte ihm zu und zog seinen Reißverschluss auf. »Ich weiß, ich sollte das nicht sagen, als ihr Vater. Aber unter uns Männern können wir doch offen reden. Du bist ja wohl nicht prüde, oder?«
»Nein, sicher nicht«, sagte Leon, bemüht zu lächeln. Er hatte nur kurz zu ihm herübergesehen, und sein Blick war ungewollt auf der Hand seines künftigen Schwiegervaters hängengeblieben, dessen Glied entweder halb erigiert oder überdurchschnittlich groß war. Dementsprechend intensiv und laut war der Schwall, der neben ihm auf die Emaille plätscherte.
»Gut. Sehr gut. Denn ich würde meine Tochter nicht an eine verklemmte Schwuchtel verheiraten. Sie braucht einen ordentlichen Deckhengst.«
»Bitte?«
»Das hat sie von ihrer Mutter. Man sieht es Silvia vielleicht nicht mehr an. Aber unter der Schminke steckt immer noch das zeigefreudige Luder, das ich vor über vierzig Jahren entjungfert habe.«
Leon hatte das Gefühl, an seinem unnatürlichen Lachen zu ersticken. Er hoffte, Hector würde gleich »reingelegt« rufen und ihm die wuchtige Pranke auf die Schulter hauen. Aber Natalies Vater machte keine Scherze.
»Wie die Mutter, so die Tochter. Natalie, das ist kein Geheimnis, war schon früh unglaublich rattig. Und so durchtrieben. Hat immer die Tür aufgelassen, wenn ihre Freunde übernachtet haben. Und das waren nicht wenige.«
Er lachte und schüttelte ab. »Ich wollte das nicht sehen, Leon. Aber Natalie hat es richtiggehend darauf angelegt. Daher weiß ich doch, worauf sie steht. Handschellen. Halsband. Schön eng, wie bei einem räudigen Hund.«
Er zog den Reißverschluss hoch und sah Leon fragend an, als ihm dessen Bestürzung auffiel.
»Hey, das bleibt unter uns, klar? Wir sind doch jetzt eine Familie?«
»Sicher«, brachte Leon hervor und sagte den Rest des Essens kaum ein Wort mehr. Er schämte sich immer mehr, auch weil er zu Beginn des Treffens eine Zeitlang tatsächlich bedauert hatte, dass sein eigener Vater nicht so weltgewandt, belesen und kultiviert war wie Hector. Er war wütend darüber, dass er ihm nicht sofort die Meinung gesagt und später eine verpasst hatte, als er zum Abschied seine Tochter umarmt und dabei für einen flüchtigen Moment die Hand auf Natalies Hintern hatte ruhen lassen. Und er hasste sich dafür, dass er wusste, er würde niemals den Mut aufbringen, Natalie von dem Gespräch auf der Herrentoilette zu erzählen, weil das nicht nur ihre Liebe zu ihrem Vater, sondern womöglich auch zu ihm selbst vergiftet hätte.
Und das darf ich nicht riskieren. Ich darf nicht riskieren, dich zu verlieren, dachte Leon heute, Jahre später.
Und mit diesem Gedanken verblasste die Erinnerung an jenes schreckliche Essen.
Er schlug die Augen auf, und der Traum war vorbei.
10.
A ls er sich im Bett
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