Der Nachtwandler
ausgelegt werden, nachdem der Suizident es sich anders überlegt hatte, während er schon am Strick hing. Mit den gleichmäßigen Einkerbungen in seinem Hals war diese Deutung nicht möglich.
»Scheiße. Du verdammtes Arschloch.«
Leon begann zu lachen.
Gefesselt, aufgeknüpft und blutend war er dem Perversen ausgeliefert und dennoch überlegen. Ein Zustand, den der Sadist nicht ertragen konnte. Er hatte ihn demütigen, kontrollieren und sich an seinem Todeskampf weiden wollen, und nun veränderte das Opfer den Ablauf der Ereignisse.
»Jetzt werde ich dir weh tun«, schrie von Boyten und hob die Arme in einer hilflosen Geste über den Kopf. »Jetzt werde ich dir richtig weh tun, du dumme Sau.«
Sein Allerweltsgesicht hatte sich in eine hässliche Fratze verwandelt. Speichel sammelte sich beim Brüllen im Mundwinkel. Er wanderte ziellos durch den Raum.
Nichts sprach dafür, dass Siegfried wusste, was er als Nächstes tun sollte, und das machte ihn rasend. Das und der Umstand, dass Leon die Angst vor dem Sterben verloren hatte und ihm höhnisch ins Gesicht lachte.
Siegfried blieb vor dem Stuhl stehen. Sein Gesicht lief rot an, die Schlagader am Hals pumpte, und die Augen wurden stumpf, verloren jede menschliche Regung. Leon begriff, dass ihm nur noch Sekunden blieben. Von Boyten folgte nicht länger einem Plan, außer dem, ihn möglichst qualvoll zu töten.
Leon hatte keine Ahnung, was der Mörder tun wollte, er wusste nur, er durfte den Psychopathen unter gar keinen Umständen wieder aus seiner Reichweite lassen. Auch während des Wutausbruchs hatte Siegfried nie den Fehler gemacht, Leons Armen zu nahe zu kommen. Im Augenblick war von Boyten einen Meter vom Stuhl entfernt stehen geblieben, aber er wandte sich schon ab, vermutlich, um das Seil von der Heizung zu lösen und Leon in eine andere Position zu bringen, in der er ihn besser quälen konnte.
Jetzt oder nie.
Nur noch einen Schritt weiter, und alles wäre zu spät.
»Hey«, brüllte Leon, aber er drang nicht mehr zu dem Tobsüchtigen durch, was sich als Glücksfall herausstellen sollte. Hätte der Killer sich herumgedreht, hätte er die Gefahr kommen sehen. So aber wurde er von den Beinen überrascht, die sich ihm plötzlich um den Hals klammerten.
Leon, der nichts mehr zu verlieren hatte, war mit letzter Kraft vom Stuhl gesprungen und hielt seinen Mörder mit den Schenkeln im Schwitzkasten.
Siegfried gab einen erstaunten Laut von sich, stolperte nach hinten und versuchte in einer reflexartigen, aufbäumenden Bewegung, den Ballast von seinen Schultern abzuschütteln – und das war sein Fehler.
Hätte er Ruhe bewahrt oder sich nach vorne fallen lassen, wäre Leons Schicksal besiegelt gewesen. So aber trug er sein Opfer huckepack. Der Strick verlor massiv an Spannkraft und schlug eine Schlaufe über dem Haken an der Decke, aus dem er sich schließlich löste.
Siegfried verlor seinen offenen Stiefel, stolperte darüber und kippte beim Fallen seitlich um die eigene Achse, wobei er Leon in der Drehung mit sich riss.
In dem Bewusstsein, gleich stranguliert zu werden, griff Leon nach oben, um sich an dem Seil festzuhalten, und war völlig verblüfft, dass der Sturz nicht gebremst wurde. Mit den Händen am Strick und den Füßen immer noch auf dem Stuhl schlug er hart und ungeschützt, den Kopf voran, auf dem feuchten Parkett auf. Das Seil hat sich vom Haken gelöst, war sein letzter Gedanke, dann verwandelte sich die Welt hinter seinen Augen in einen Feuerball.
40.
L eon konnte nichts sehen, bekam keine Luft mehr, der Schmerz hatte einen neuen Höhepunkt erreicht, und dennoch erwartete er, dass die Qualen gleich viel schlimmer werden würden, sobald von Boyten neben ihm sich wieder aufgerappelt hatte.
Momentan begnügte er sich mit heftigen Tritten in den Unterleib.
Mit einer Hand schützte Leon seine Genitalien, die andere hielt er abwehrend vors Gesicht und wunderte sich, dass Siegfrieds Tritte so ungezielt waren.
Er versuchte, die Augen zu öffnen. Die Welt dahinter war verschwommen und glasig, kein Wunder, nach der Gehirnerschütterung durch den Aufprall.
Worauf wartet er?
Von Boyten schrie etwas, was Leon nicht verstehen konnte, weil der Pfeifton in seinem Kopf auf die Lautstärke eines explodierenden Teekessels angeschwollen war. Er versuchte sich abzustützen, und seine Hände griffen in eine Lache, von der er hoffte, dass es kein Blut war.
Siegfrieds Tritte wurden unterdessen schneller, aber auch schwächer. Seine Rufe lauter.
Was hat
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