Der Nachtwandler
ihr etwas antun würde. Dabei war es genau umgekehrt.
Er sollte aufwachen und ihr helfen. Denn als Schlafwandler war er nutzlos und konnte sie nicht befreien.
Von Boyten war wieder in den Flur gegangen, deshalb konnte Leon nicht sehen, was er als Nächstes tat, aber das war auch nicht nötig. Er hörte es.
»Hallo, Sie haben den Anschluss von Natalie und Leon Nader gewählt. Nachrichten bitte nach dem Piepston.«
Er spielt es auf den Anrufbeantworter! Verdammt, er SPIELT ES AUF MEINEN ANRUFBEANTWORTER!
Leon behielt recht. Wenige Sekunden später hörte er den Zusammenschnitt von Natalies letzten Worten in der typisch verzerrten Tonqualität aufgezeichneter Anrufe.
»Leon, Liebling. Es tut mir so leid. Es gibt keine harmlosen Worte, also sage ich es ganz direkt: Ich habe dich betrogen. Mit einem Mann, dem ich verfallen bin. Er befriedigt meine Bedürfnisse. Für uns gibt es keine Zukunft mehr. Ich weiß nicht, wann ich mich wieder bei dir melden werde.«
»Damit kommen Sie nicht durch«, krächzte Leon erstickt und wusste, dass er sich irrte.
Ein Computerexperte würde die Schnitte auf der Tonspur entdecken, aber wer würde bei einem eindeutigen Selbstmord diese kostspielige Analyse überhaupt in Auftrag geben? Der Fall war klar: Die betrügerische Ehefrau gesteht ihr Verhältnis. Ihr Mann dreht durch. Mord aus Eifersucht. Im Anschluss nimmt er sich den Strick – die älteste Geschichte der Welt.
Und für die letzten Zweifler gibt es sogar ein Beweisvideo. Großer Gott.
Jeder, der das Band von Natalies Hinrichtung in die Hände bekam, würde denken, Leon hätte ihr den Füller in den Hals gerammt. Er selbst war ja im ersten Moment auf die Täuschung hereingefallen. Siegfried musste lediglich die letzten Sekunden nach Natalies Ermordung löschen – den Teil, in dem er durch die Tür hinter dem Spiegel zu ihm ins Schlafzimmer gestiegen war –, aber das war ein Kinderspiel, verglichen mit dem, wie er das gesamte letzte Jahr ihr Leben dirigiert hatte.
Links. Rechts.
Weiter bewegen. Nur kein Laut. Auch wenn es dich zerreißt.
Leon zitterte am ganzen Körper und machte eine Pause, um nicht vor Schmerzen ohnmächtig zu werden, während Siegfried im Flur die Aufnahme ein weiteres Mal überprüfte.
Mittlerweile war es ihm gelungen, die Zeitansage des Anrufbeantworters zu manipulieren. Laut Computerstimme war Natalies Anruf nun bereits vor einigen Tagen eingegangen.
Lange vor ihrem Tod.
Links. Rechts. Weiter drehen.
Selbst unter Schmerzen standen Leons Gedanken nicht still.
Verdammt, es gibt sogar Zeugen, die mich belasten. Ich selbst habe Sven gestanden, Natalie geschlagen und mich im Labyrinth gefilmt zu haben.
Zumindest würde Sven seinen wirren Geisteszustand bestätigen.
Links. Rechts. Links.
Leon hielt die Qualen nicht mehr aus. Weder die körperlichen noch die seelischen.
Wie lange geht das schon so?, schrie er Siegfried in Gedanken an und biss sich die Zunge blutig.
Wie viele Videobänder hast du mir untergeschoben? Wie lange manipulierst du mich schon?
Er hörte Schritte vom Flur her, sah einen Schatten und drehte sich zur Schlafzimmertür.
»So, und jetzt zu dir …«, sagte von Boyten beim Eintreten. Sein zynisches Grinsen erstarb mitten im Satz.
Leon war sich sicher, dass er den Stuhl unter seinen Füßen weggetreten hätte, wenn der unerwartete Anblick ihn nicht völlig überrumpelt hätte.
Links. Rechts. Und wieder nach links.
»Was tust du da?«, schrie Siegfried, von der Erkenntnis getroffen, dass sein perfekter Plan auf einmal nicht mehr so perfekt funktionierte.
Rechts. Wieder links.
Egal wie groß die Schmerzen sind.
Leon hatte sich den Hals blutig gerissen, und er hörte auch jetzt noch nicht damit auf, seinen Kopf zu bewegen.
Links. Rechts.
Der grobe Leinenstrick scheuerte auf der rohen Fleischwunde wie Stahlwolle. Blut lief ihm über Brust und Bauch, so viel, dass er es selbst an seinem Hodensack spüren konnte, und tropfte fadenziehend auf die Sitzfläche des Stuhls.
»Aufhören. Hör sofort auf damit.«
Leon dachte nicht daran. Jeder Schnitt ins Fleisch signalisierte ihm, dass er noch lebte. Besser noch: Er manifestierte den Beweis, dass er sich gewehrt hatte. Kein Rechtsmediziner dieser Welt konnte das übersehen. Niemand würde bei diesen Verletzungen mehr von einem Selbstmord ausgehen. Wenn noch mehr Zeit gewesen wäre, hätte er auch die Handschuhe ausgezogen, aber Wunden an den Händen waren nicht eindeutig genug und könnten auch als Befreiungsversuche
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