Der Nachtwandler
erzählt hast, in seiner schlimmsten Ausprägung. Erst hat er meine Fische vergiftet. Dann mich. Und schließlich uns.«
Leon sah zu dem zerstörten Aquarium und fragte sich, ob der Wasserschaden von Ivana ein Stockwerk tiefer bereits bemerkt worden war und sie Hilfe holen würde.
»Er beobachtet mich. Er weiß Dinge, die ich ihm nie erzählt habe. Von meinem Vater. Und von deinen Schlafstörungen.«
Natalies Tonfall nach schien sie zum Ende kommen zu wollen.
»Ich liebe dich, Leon, ich habe so oft versucht, mit ihm Schluss zu machen, habe deinen Antrag völlig überhastet angenommen, weil ich dachte, dann würde er mich freigeben, doch wir hatten eine Grenze überschritten. Er hat mein Nein nicht mehr akzeptiert. Bis heute. Jetzt lasse ich ihm keine Wahl mehr. Ich werde zur Polizei gehen und ihn anzeigen. Keine Ahnung, was ich danach mache. Ich weiß nicht, wann ich mich wieder bei dir melden werde. Ich schäme mich so, habe solche Angst, aber die habe ich auch verdient.«
»Nein«, widersprach Leon, unfähig, sich noch sehr viel länger auf den Zehenspitzen zu halten.
Das hier hat niemand verdient.
Alles, was sie gesagt, alles, was sie getan hatte, änderte nichts an seinen Gefühlen für sie. Nicht einmal im Angesicht des Todes, der mit ihrem Verrat in ihr Leben getreten war.
Erst recht nicht im Angesicht des Todes.
Unter normalen Umständen hätte er ihr niemals vergeben können. Sie hätten sich getrennt, den Kontakt abgebrochen, wären in verschiedene Städte gezogen und hätten nur wieder voneinander gehört, wenn eine Laune des Schicksals es so gewollt hätte.
Aber, dessen war Leon sich sicher, sie hätten nie aufgehört, sich zu lieben.
»Warte nicht auf mich«, forderte Natalie. Hatte sie sich bis jetzt erstaunlich gefasst gezeigt, brachen zum Ende der Aufnahme alle Dämme. Sie zog die Nase hoch, schob die Unterlippe vor, machte ansonsten aber keine Anstalten, den Lauf ihrer Tränen aufzuhalten.
»Ich bin es nicht wert. Ich weiß, für uns gibt es keine Zukunft mehr. Ich habe alles zerstört. Doch wenn mein Betrug zu irgendetwas gut war, dann dazu, um mir zu zeigen, wie sehr ich dich liebe. Für immer lieben werde.«
»Wie niedlich.«
Von dem zynischen Kommentar des Psychopathen aufgeschreckt, drehte sich Leon zur Tür und kam ins Wanken. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Leon wusste nicht, ob der Mann, dessen Namen er jetzt kannte, schon länger in der Tür gestanden hatte oder eben erst zurückgekommen war.
Natalies Lippen formten einen letzten Kuss. Dann verzog sie die Lippen, und Leon konnte unter der gequälten Grimasse den Ansatz jenes Lächelns erkennen, in das er sich vor Jahren verliebt hatte.
Es gab ein elektrostatisches Geräusch, und der Monitor wurde schwarz. Siegfried von Boyten setzte sich wieder vor den Computer.
»Wieso?«, würgte Leon. Keine Reaktion. Natalies Mörder ließ summend die Finger über die Tastatur gleiten.
Weshalb tun Sie das? Wieso zerstören Sie unser Leben?
Und weshalb haben Sie mir das eben gezeigt?
Leon beobachtete, wie von Boyten die DVD wieder aus dem Laptop nahm und ein Schnittbearbeitungsprogramm öffnete, und da begriff er, dass der Wahnsinnige das Band nicht seinetwegen abgespielt hatte.
Das Schwein wollte nur eine Kopie erstellen.
Offensichtlich hatte es der Sadist auf die Tonspur abgesehen, die er jetzt zu bearbeiten begann. Siegfried setzte einige wenige, aber gezielte Schnitte, mit denen er das gesamte Audiofile auf eine Länge von wenigen Sekunden kürzte, bis am Ende ein völlig sinnentstelltes Tondokument herauskam, dessen Funktion so grausam war wie alles Weitere, was der Psychopath zu verantworten hatte.
39.
R echts. Links. Und wieder nach rechts.
Ganz gleich, wie groß der Schmerz ist. Ganz gleich, wie heftig es blutet.
Leon hatte begriffen, was der Sadist beabsichtigte, und deshalb blieb ihm keine Wahl. Er musste sich bewegen, solange ihm noch die Zeit dazu blieb. Bevor Siegfried von Boyten den perfekten Mord zum Abschluss gebracht hatte.
»Nein!«, hörte er auf einmal Natalie schreien und wusste, es war nur in seiner Erinnerung. Die Erinnerung an einen Traum, in dem er sich in einem Kellerraum befand, der genauso aussah wie dieses Schlafzimmer hier.
Damit das Schwein dort die Videoaufnahmen drehen konnte, die er mir später unterschob.
»Nein!«, schrie Natalie noch lauter in seinen Gedanken. In seinem Traum (nein, im dritten Stadium!) hatte er gedacht, sie habe Angst vor ihm. Davor, dass er wieder einschlafen und
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