Der Nachtwandler
sagte der Mann, der sich ihm schon einmal als Postbote ausgegeben hatte, und ging zur Schlafzimmertür, nachdem er das Band wieder gestartet hatte.
Ohnmächtig musste Leon mit ansehen, wie der Irre den Raum verließ, ohne dass ihm das einen Vorteil verschaffte.
Er versuchte, sich an dem Seil nach oben zu ziehen, aber er merkte, dass er zu wenig geschlafen und zu viele Strapazen ertragen hatte. Seine Arme waren zu schwer, er würde niemals bis an die Decke klettern können, sondern spätestens auf halber Strecke die Kraft verlieren. An die Lehne war auch nicht zu denken. Der Stuhl würde umkippen, sobald er auf sie trat. Ebenso gut könnte er gleich springen.
»Es gibt keine Worte, die das entschuldigen können, was ich dir alles angetan habe«, fuhr Natalie derweil fort. »Also sage ich es ganz direkt: Ich habe dich betrogen. Mit einem Mann, dem ich verfallen bin. Nein, verfallen war. Wir beide mussten nie über meine speziellen Wünsche reden, Leon. Wir wissen, dass es eine dunkle Seite in mir gibt, die dir fremd ist. Und die ich ausgelebt habe. Heimlich. Anfangs war es wild, aufregend und exotisch. Zuerst dachte ich, er befriedigt meine Bedürfnisse. Aber das war ein Irrtum. Und jetzt ist alles, wie du siehst, völlig aus dem Ruder gelaufen.«
Sie deutete auf ihre Verletzungen und verzog das Gesicht zu einem schmerzhaften Lächeln.
»Sein Name ist Siegfried von Boyten. Er ist der Eigentümer dieses Hauses, und er ist der Ursprung, der Kern und die Quelle all meiner Lügen. Wir haben uns nie um diese Wohnung beworben, Schatz. Er hat sie mir vermittelt, da war ich schon eine Weile mit ihm zusammen.«
Ihre Beichte schnitt ihm wie ein Messer durch die Eingeweide, und Leon fragte sich, wie viel er noch ertragen konnte.
»Siegfried hat mich im Wartezimmer von Dr. Volwarth angesprochen. Er war in psychiatrischer Behandlung. So wie ich.«
Natalie schluckte schwer.
» Ja, ich bin in Therapie, und das ist leider längst nicht das Einzige, was ich dir verschwiegen habe. Meine sexuellen Wünsche wurden immer extremer, bizarrer. Ich hatte Angst, mit dir darüber zu reden. Ich hatte Angst vor mir selbst.
Ich war erst bei einem anderen Arzt, aber der hat mich zu Dr. Volwarth überwiesen. Damals waren wir noch nicht verheiratet, weswegen er nicht wusste, dass ich dich kenne. Er hat mir übrigens sehr geholfen.«
Ihr Blick wurde zornig.
»Durch ihn weiß ich jetzt, was für ein Schwein mein Vater ist. Was er in meiner Kindheit zerstört hat und weshalb ich heute eine leichte Beute für Sadisten bin wie Siegfried. Der Mann, mit dem ich dich hintergangen habe.«
Sie machte eine Pause, dann fügte sie leise hinzu:
»Der Mann, der mich geschwängert hat.«
»Nein«, schrie Leon, so laut der Strick um seinen Hals es erlaubte.
Er fühlte einen eisigen Lufthauch durch das Innere seines Körpers wehen. Seine Beine wurden taub, er fühlte seine Zehen nicht mehr, konnte sich nicht länger auf ihnen halten. Sein Kehlkopf wurde gequetscht, als er einen halben Zentimeter nach unten sank, aber jetzt war es nicht länger der Strick, sondern Natalies Beichte, die ihn erstickte.
»Verstehst du jetzt, weshalb ich dir nicht unter die Augen treten kann? Ich habe dich nicht nur betrogen. Ich habe dich glauben lassen, wir hätten unser Kind verloren. Dabei war es sein Baby, das ich abtrieb. Und wie es aussieht, bekomme ich dafür jetzt meine gerechte Strafe. Von Boyten ist ein Psychopath, Leon. Er hat mich geschlagen, gefoltert und vergewaltigt.«
Sie hielt den Daumen in die Kamera.
»Das hier hat nichts mehr mit meinen Vorlieben zu tun. Boyten ist ein Sadist, der es liebt, schwache Menschen zu dominieren. Sie zu quälen. Und zu beobachten. Er ist ein perverser Voyeur, und er schlüpft in fremde Identitäten, um andere zu manipulieren. Einmal hat er sich als Postbote ausgegeben, um mir seine Macht zu demonstrieren. Er wollte mir nahe sein, während du neben mir stehst.«
Leon schüttelte den Kopf, ungläubig, fassungslos. Mit jeder Bewegung schnitt ihm der Strick tiefer in den Hals, doch das war ihm gleichgültig. Nichts hatte mehr eine Bedeutung. Nicht einmal die Tatsache, dass er doch kein perverser Mörder war. Natalie hatte ihn betrogen und war tot. Und er würde ihr Schicksal in wenigen Sekunden teilen.
»Ich glaube, Siegfried hat einen Zweitschlüssel zu unserer Wohnung, und er spioniert mir nach, wenn ich nicht da bin. Ich habe keine Ahnung, wie er es anstellt, aber er ist wie einer dieser Rauhgeister, von denen du mir
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