Der Nachtwandler
Gesicht.
»SIEH MICH AN!«, schrie Sven und riss ihm die Hände weg.
Dann verpasste er ihm eine Ohrfeige. Leons Wange brannte wie Feuer. Er schenkte Sven einen tränenverschmierten, wütenden Blick, und dann passierte es.
Sein Freund zerfloss vor seinen Augen wie Wachs auf einer warmen Herdplatte.
Die Stirn wuchs in die Höhe, das Kinn wurde schmaler. Wangenknochen zeichneten sich ab, wo vorher nur Fettgewebe gewesen war. Gleichzeitig verfärbten sich seine Haare, sie wurden dunkler, bis sie sich dem Braun der Augen angenähert hatten.
»Wach endlich auf«, sagte Sven, der nicht mehr wie Sven aussah und auch nicht mehr stotterte, sondern auf einmal sprach, als hätte er sich an etwas Heißem verschluckt.
»WACH AUF!«
Es knackte. Laut und schmerzhaft. Dann hatte Leon das Gefühl, von einem Absaugrohr angezogen und nach oben gerissen zu werden.
Er zuckte zusammen, riss die Arme hoch, trat um sich, strampelte die Decke ans Ende des Bettes und öffnete die Augen.
Im ersten Moment hörte er nur den eigenen Atem, dann flüsterte eine weiche Stimme ängstlich seinen Namen: »Leon?«
Er blinzelte. Warmes, schräg durch eine Jalousie fallendes Sonnenlicht wärmte ihm das Gesicht. Er schwitzte.
»Kannst du mich hören? Geht es dir gut?«
Eine Frau beugte sich über ihn, so dicht, dass ihm der dezente Geruch ihres Lieblingsparfums in die Nase stieg. Eine Mischung aus frischem Heu und grünem Tee. Über ihrem Kehlkopf schimmerte eine Mulde, die heller wurde, als sie schluckte.
Sie streichelte ihm über die Wange, dann verschwand ihr Lächeln aus dem Gesicht, und eine vertraute Melancholie spiegelte sich in ihren Augen wider.
»Ich hab dich schreien hören und bin rübergekommen. Ist alles okay?«
Leon nickte. »Ja, alles in Ordnung.«
Er setzte sich auf, sah zur Uhr auf dem Nachttisch.
Dann griff er sich an den Hals, tastete nach seinen Narben, und nachdem er sich eine Weile gesammelt hatte, sagte er – noch unsicher, wie jeden Morgen: »Mach dir keine Sorgen, Natalie. Ich bin wach.«
Danksagung
E ines Tages, ich hatte am Vorabend gerade das 19. Kapitel dieses Buches vollendet, weckte ich etwa um halb drei Uhr morgens meine neben mir schlafende Frau Sandra und fragte sie aufgeregt: »Hast du das Baby aus dem Keller geholt?«
Wie betäubt antwortete sie mir: »Bist du noch bei Trost?« Dann wachte ich auf.
Es war nicht das erste Mal, dass ich im Schlaf seltsame Dinge tat. Schließlich hatte ich in diesem Zustand geheiratet. Im Ernst: Einmal begann ich hellwach einen Satz und vollendete ihn schlafend (erster Teil: »Du musst morgen daran denken, …« Zweiter Teil: »… die Dübel nicht in den Auspuff zu stecken«). Ein Hinweis, der meine Frau vor ein ähnliches Rätsel stellte wie die Frage nach dem Baby, das wir in meinem Traum nicht befreien konnten, aus welcher Gefahr auch immer.
Schon in Der Seelenbrecher habe ich den unangenehmen Zustand der »Schlaflähmung« beschrieben, in dem der Geist glaubt, bereits wach zu sein, der Körper aber noch vom Schlaf gefangen gehalten wird. Ich leide nicht sehr oft darunter, vielleicht einmal alle zwei Jahre, aber wenn es geschieht, steht ein Mann im Zimmer und beobachtet mich, und ich kann nichts dagegen tun, wenn er die Axt hebt. Ich will aufspringen, ihn anbrüllen, ihm wenigstens ein Zeichen geben, nicht mich, sondern meine Frau neben mir zu nehmen – vergeblich.
Mit derartigen Schlafstörungen bin ich in bester Gesellschaft. Über zwanzig Prozent der Bevölkerung leiden an ähnlichen Symptomen. Natürlich laufen nicht alle von uns durch die Wohnung, suchen nach versteckten Türen oder setzen sich schlafwandelnd in ihr Auto, um jemanden umzubringen wie Kenneth Parks; der Fall, so wie im Buch beschrieben, hat sich tatsächlich ereignet. Aber immerhin: Viele von ihnen richten sich auf, starren durch die Gegend, manche reden wirr, so wie ich. Einige wenige gehen in die Küche, ziehen sich an, schreiben einen Brief, führen Unterhaltungen mit wachen Personen oder verlassen sogar die Wohnung.
Lustig ist das in keinem einzigen Fall. Es gibt keine schlafwandlerische Sicherheit. Die Gefahr, dass sich diese Personen selbst verletzen, ist wesentlich größer (und sehr viel wahrscheinlicher), als dass sie ihren Mitmenschen etwas antun.
Vor diesem Hintergrund will ich klarstellen: Ich habe kein Sachbuch geschrieben. Die Ereignisse in diesem Buch sind reine Fiktion, jegliche Ähnlichkeit mit Lebenden oder Toten ist selbstverständlich unbeabsichtigt und rein
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