Frostengel
Prolog
Julia blickte immer wieder über die Schulter. Wäre sie bloß eine Stunde eher nach Hause aufgebrochen, als es noch hell war. Sie wünschte, sie hätte jemanden gebeten, sie zu begleiten. Hinter ihr ließ ein Geräusch sie zusammenfahren. Panisch drehte sie sich um, aber da war nichts. Natürlich nicht. Vielleicht war es bloß ein Ast gewesen, von dem der Schnee gefallen war. Vielleicht auch ein Vogel oder der Wind, der an den Zweigen rüttelte. Ihre Beine wurden schneller. Julia unterdrückte den Drang loszurennen. Langsam wurde es Zeit, dass sie sich nicht mehr von ihrer Angst bestimmen ließ. Sie musste ihr Leben wieder in den Griff kriegen.
Da war nichts, versuchte sie sich Mut zuzusprechen. Sie musste sie bezwingen: diese Angst, die sie lähmte, die jeden ihrer Schritte leitete, die ihr vorschrieb, wann sie mit wem nach Hause ging, die sie nicht schlafen ließ, weil sie auf jeden Ton, jedes Geräusch achtete. Julia wollte nicht mehr mit ihr leben müssen. Doch die Angst blieb hartnäckig in ihrem Nacken sitzen, sie wisperte ihr zu: Es ist dunkel und kein Mensch weit und breit .
Aber ihre Mutter konnte sie nicht jedes Mal abholen. Sie unterdrückte das Verlangen, zurück ins Grätzel zu laufen und sie doch noch anzurufen. Nein. Nein, nein und noch mal nein. Ich schaffe es alleine, spornte sie sich an. Sie schaute sich ein letztes Mal um: Siehst du, da war niemand! Gleich würde sie die Bushaltestelle erreichen, dort gab es Laternen, es war hell, wahrscheinlich warteten Leute, es konnte nichts passieren.
Ein Auto hielt neben ihr. Julia zuckte zusammen, doch als sie den Fahrer erkannte, atmete sie auf.
»Spring rein, ich kann dich mitnehmen. Du musst doch nach Kleinhardstetten, oder?«, fragte er.
Erleichterung machte sich in ihr breit. Sie nickte dankbar. Ihre Entschlossenheit, den Heimweg ohne fremde Hilfe meistern zu wollen, schien ihr auf einmal waghalsig und dumm. Was hatte sie sich eigentlich beweisen wollen? Zeigte ihr viel zu schnell klopfendes Herz nicht genau das Gegenteil? Morgen war auch noch ein Tag, morgen würde sie ihre Angst in die Schranken weisen. Sie würde im Hellen losgehen, sich nicht aufhalten lassen wie heute. Von ihrem Vorsatz wäre sie schließlich auch jetzt nicht abgerückt, wenn sich nicht diese Mitfahrgelegenheit ergeben hätte. Das war zwar noch kein Sieg gegen ihren unsichtbaren inneren Gegner, aber dennoch ein Grund, stolz auf sich zu sein.
»Danke«, sagte sie. »Ich bin froh, wenn ich nicht auf den Bus warten muss, es ist ziemlich kalt.«
»Ja, ist es. Mich wundert, dass du überhaupt allein unterwegs bist, nach dem … Vorfall letztens. Hast du keine Angst?«
Doch, wollte Julia antworten. Doch, sie sitzt in mir, ist mein ständiger Begleiter. Sie spricht mit mir, umklammert mich – aber das ging niemanden etwas an. Sie musste mit ihrer Angst allein fertig werden, sie ignorieren, ihr entgegentreten, dann würde sie vergehen. Deshalb sagte sie: »Nein. Schließlich geht das Leben weiter, nicht wahr? Ich kann mich nicht ewig verkriechen.«
Julia wusste, dass der Grund für ihre Angst nicht irgendwo da draußen war. Das, was ihr so Angst machte, hatte sich in ihrem Heim eingenistet, saß mit ihrer Mutter und ihr am Frühstückstisch, lächelte und keiner außer ihr durchschaute seine Fassade. Sie hatte niemandem von ihrem Verdacht erzählt, denn wer würde ihr schon glauben? Sie glaubte es ja selbst nicht: Dr. Sebastian Mechat, praktischer Arzt, ihr eigener Vater, war Melissas Mörder.
Kapitel 1
Ich bekam die Augen kaum auf, mein Hals war trocken und schmerzte. Das T-Shirt klebte auf meiner Haut und fühlte sich klamm an. Mich fröstelte. Auf dem Nachttisch stand ein Becher. Ich griff danach, doch da merkte ich, dass er leer war.
Der Weg vom Bett hin zum Fenster war eine einzige Qual, aber trotz der Kälte musste ich lüften. Wenigstens kurz. Ich hatte das Gefühl zu ersticken – und das lag nicht an dieser blöden Grippe, die mich total außer Gefecht setzte. Wenn ich länger als ein paar Stunden zu Hause verbrachte, fühlte ich mich irgendwann, als ob ich keine Luft mehr bekäme.
Der Boden klebte unter meinen Füßen und auf den Oberschenkeln hatte ich Gänsehaut. Nur schnell in der Küche etwas zu trinken holen und dann wieder ins Bett.
Auf der Couch im Wohnzimmer saß, nein, sie lag eigentlich eher, Corinna, meine kleine Schwester. Irgendein Junge, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, lag neben ihr und hatte seine Hände scheinbar überall
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