Soljanka (German Edition)
Prolog
Nachdem sie das Besteck in die Spülmaschine geräumt hatte,
nahm sie die geöffnete Rotweinflasche, füllte ihr Glas zur Hälfte, stellte es
auf dem Wohnzimmertisch neben dem aufgeschlagenen Magazin ab und ließ sich in
einen schweren Ledersessel fallen. Sie schloss die Augen, blieb ein paar
Minuten reglos sitzen, dann beugte sie sich vor, um einen Schluck zu trinken.
Als sie das Glas wieder abgestellt hatte, nahm sie das Magazin vom Tisch und
knipste die Leselampe an. Sie betrachtete das Panoramabild, das die ganze
Doppelseite einnahm, die Luftaufnahme eines gewaltigen, groben Bauwerks
inmitten einer Mittelgebirgslandschaft. »Satansrituale in der Nazi-Burg?«,
lautete die Schlagzeile in dunkelbrauner Schrift auf hellgrauem Himmel. Der
Name des Autors, Hans Stamm, war mit rosa Leuchtstift markiert, was die Wirkung
der düsteren Doppelseite auf irritierende Weise verniedlichte. Die Zeitschrift
wirkte zerlesen, das Papier wellte sich, es gab Eselsohren und einzelne
Schmutzflecken. Sie blätterte um, übersprang die erste Textseite und setzte an
einer Stelle zu lesen an, die ebenfalls mit Leuchtstift gekennzeichnet war. Sie
las schnell und selektiv. Es ging ihr nicht darum, neue Informationen
aufzunehmen, sie wollte offensichtlich bereits vorhandene Erkenntnisse
überprüfen und verfestigen.
Bleigraue Wolken hängen schwer über den
tiefen Fichtenwäldern rund um Gemünd. Die windgepeitschten Baumwipfel wiegen
sich in einem hypnotischen Tanz. »Die Eifel ist kälter als der Tod«, lautet der
brachial-poetische Titel eines Regionalkrimis von Edgar Noske. Auf der Fahrt
zur Ordensburg gibt uns das Sturmtief Wilma eine Ahnung, was damit gemeint sein
könnte. Dabei ist das Wetterszenario nur eine dezente Ouvertüre für die große
Oper, die uns auf der kahlen Hochfläche oberhalb der Urfttalsperre erwartet.
Vogelsang ist ein erdrückend kalter Ort. Die monumentalen Ausmaße der dunklen
Betonbauten schüchtern den Besucher ein, gegen diese herrische Klotzigkeit
versprechen selbst die grauen Wolkengebirge Zuflucht und Freiheit.
Von alldem sieht Lena Wieland jedoch nichts, als
sie am 3. August letzten Jahres hierhergefahren wird. Mutmaßlich hierher,
um genau zu sein. Handfeste Beweise gibt es nicht. Es ist tiefe Nacht, und
obendrein hat man ihr die Augen verbunden. Es gibt nur Indizien. Bewohner von
Morsbach, dem Dorf unterhalb der Ordensburg, haben den Autokonvoi gesehen.
Schwarze Limousinen, ein paar SUV brausten durch den verschlafenen Ort. Kann sein, dass sie auf der
B 266 weiter nach Aachen gefahren sind. Aber mehr spricht dafür, dass
sie kurz hinter dem Dorf die Bundesstraße verlassen und Kurs auf Vogelsang
genommen haben. Die Polizei hat sich bemüht, Lena Wielands Schreckensfahrt zu
rekonstruieren. Und an einem ganz bestimmten Ort bei der Ordensburg, die den
Nazis als Kaderschmiede diente, wurde sie fündig.
Lena Wieland erkennt den Thingplatz wieder. Schon
in ihrer ersten Befragung durch die Polizei hat sie die unverkennbare
Fackelträger-Statue beschrieben, einen arischen Herkules, den belgische
Soldaten nach Kriegsende halb entmannt haben. Er wirkt ein wenig lächerlich in
seiner großartigen Pose, aber mit zerschossenen Hoden.
In jener Nacht kann Lena Wieland freilich nicht
über den Fackelträger lachen. Nicht in jener Schreckensnacht, die ihr Leben
verändern sollte.
Dabei hatte alles so normal begonnen. Wie jeden
Freitag will die hübsche Arzthelferin mit ihrer besten Freundin in der
Roonburg, einem Club im Kölner Kwartier Latäng, die Sorgen des Alltags
wegtanzen. Auf der Tanzfläche lernt sie einen jungen Mann kennen, der sich als
»Fred« vorstellt. »Er hatte ein tolles Bewegungsgefühl, das Tanzen mit ihm
machte irrsinnig viel Spaß«, sagt Lena Wieland.
Der anfangs spielerische Flirt nimmt Fahrt auf.
Nach der Lasershow kurz vor Mitternacht schlägt Fred vor, kurz vor die Tür zu
gehen, frische Luft schnappen. Lena geht mit, sie glaubt an einen
Glückstreffer. »Er war nett, aufmerksam, witzig.«
Draußen gehen sie ein paar Schritte. Doch kaum
sind sie außer Sichtweite der Türsteher, ist der nette Fred plötzlich verschwunden.
Lena wird von hinten gepackt, eine Hand mit einem übel riechenden Tuch legt
sich über ihren Mund und ihre Nase, sie verliert das Bewusstsein. Als sie
wieder aufwacht, sitzt sie in einem fahrenden Auto, die Hände gefesselt, vor
die Augen ein Tuch gebunden. Sie schreit, aber eine flüsternde Männerstimme
befiehlt ihr zu schweigen. Man droht ihr, sie wieder zu
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