Der Name Der Dunkelheit
sogar die Hälfte gekommen. Sie standen jetzt draußen am Schuhregal
und verhandelten darüber, was sie noch zusammen anstellen sollten.
Anna musste um die fünfzig sein, überlegte Sofi. Sonst wusste sie so gut wie nichts über sie. Irgendwann war sie aus Spanien nach Stockholm gekommen, und alles, was sie sagte, war eine Kette aus Imperativen. Ihr Schwedisch klang wie ein auf dem Kopf stehendes Ausrufezeichen. Mehr wollte Sofi gar nicht erfahren, so sehr liebte sie Unklarheiten.
»Ich bin ebenfalls katholisch«, sagte sie und zog dabei den Reißverschluss ihrer Jacke zu.
Anna fuhr herum und musterte sie. Sofis schwarzes Haar und ihre ebenso schwarzen Augen genügten als vorläufiger Beweis. Sie stellte keine Folgefrage. Was ihre Schüler außerhalb der Tanzschule machten, kümmerte Anna nicht. Solange sie hier tanzten, gab es kein Draußen.
Der Katholizismus war wie ein geerbtes Schmuckstück für Sofi, etwas, das zu nichts zu gebrauchen war und das man nie herzeigte und nur selten aus der Schatulle holte, weil man ja wusste, dass man es besaß. Darüber hinaus wusste sie so gut wie nichts über ihre Religion, da sie zeit ihres Lebens in ihrer Welt die einzige Katholikin gewesen war. Allein ihr Vater hätte ihr etwas darüber erzählen können, doch den hatte ihre Mutter nach einer leidenschaftlichen Nacht irgendwo südlich des 44. Breitengrades nie mehr wiedergesehen. Die einzige katholische Kirche Stockholms lag in Sofis Stadtteil, doch sie zog es vor, von Zeit zu Zeit in der Sofiakirche nahe ihrem Haus zu sitzen und nachzudenken, während sie die protestantischen Frauen aus der Nachbarschaft bei ihren Qigong-Übungen betrachtete, zu denen sie sich täglich zwischen den Kirchenbänken trafen.
Die anderen waren längst aufgebrochen, als sie ins Treppenhaus trat. Sie wollte den Weihnachtsabend nicht mit sieben
verzweifelten Frauen verbringen. Mitten auf der knarrenden Treppe erlosch das Licht. Sie tastete sich voran. Als sie die Tür öffnete, quoll kniehoher Schnee in den Flur. Dicke Flocken schwebten in der Luft. Aus allen Richtungen hörte man Schneeschaufeln über den Asphalt kratzen. Sofi brummte vor Erstaunen. Auf der Fahrt hierher war alles karg und grau gewesen. Schnee war zwar angekündigt worden, aber niemand hatte damit gerechnet, dass er noch zu den Feiertagen eintraf.
Am Gehweg hatten die Räumfahrzeuge den Schnee so hoch angehäuft, dass der Wall Sofi bis zu den Schultern reichte und man wie im Ersten Weltkrieg durch geschaufelte Gräben bis zur Ampel und noch weiter laufen konnte, ohne entdeckt zu werden. Sie hatte das Gefühl, eine ganze Woche verpasst zu haben.
Abseits der Kreuzung waren die Straßen und Wege noch ungeräumt, und überall herrschte Anarchie. Der Zusammenbruch der Zivilisation war das Schönste am Schnee. Man musste sehr weit in den Süden Europas reisen, um eine Stadt zu finden, die bei einem Wintereinbruch in eine vergleichbare Panik verfiel wie Stockholm. Sofi sog den Kristallduft in die Nase und lief los.
Nicht nur sie war auf der Suche nach ihrem Auto. Auf der anderen Seite der Straße versuchte ein Mann im Mantel einen Schneehaufen nach dem anderen und fuchtelte dabei mit seinem elektronischen Türöffner in der Luft herum, ohne dass sich sein Wagen zu erkennen gab. Bei Sofis altem Fiat Mirafiori hätte der Schnee einen Meter hoch auf der Motorhaube liegen müssen, damit die altmodisch lange Antenne darunter verschwand. Der Eiskratzer war in dieser Lage natürlich ein Witz, deshalb behalf sie sich mit der Fußmatte, um das Auto freizuschaufeln.
»Spring an, Mimi!«, flehte sie und drehte den Schlüssel mit unklaren Erwartungen im Zündschloss. Der verrostete Mirafiori
war als Sollbruchstelle in ihrer raffinierten Schicksalshygiene fest einkalkuliert. Ein präpariertes Ziel für den lieben Gott. Doch der Wagen sprang jedes Mal an, als wollte sich der liebe Gott über ihren erbärmlichen Versuch lustig machen und sie zappeln lassen. Schon vor langer Zeit hatte Sofi beschlossen, sich ein richtiges Auto zuzulegen und damit in die Zukunft zu fahren, sobald beim Fiat die nächste Reparatur anfiel. Seit dieser Entscheidung lief der Wagen ohne Murren.
Sie wohnte nur drei Straßen von der Tanzschule entfernt. Als sie nach der schlüpfrigen Fahrt in die Tengdahlsgatan einbog, begann sie nach einem Parkplatz Ausschau zu halten und bemerkte daher zu spät, wie am anderen Ende der Straße Scheinwerfer auftauchten. Sie trat auf die Bremse. Das Bremsen half auf der
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