Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
ERSTER TAG
Eine Nacht ohne Angst wäre schön, dachte Mathilde. Alles schien ruhig. Nur ein Neonlicht am Ende des Flurs flackerte. Sie schlürfte bereits ihren dritten Becher Kaffee, um gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Im Dienstzimmer der Station brannte eine von Weihnachten übrig gebliebene Lichterkette. Der Blick durch das große Fenster in die Finsternis war unverstellt. Regen prasselte gegen das Glas und lieferte leise Zwischentöne zu Debussys Klaviermusik von Klassik-Radio.
Ihr Gespräch mit Kiana Chavari, dem schwer traumatisierten Mädchen aus Afghanistan, hatte sie bereits in der Patientenakte dokumentiert. Die Medikamente für den kommenden Morgen waren auf einem Tablett bereitgestellt. Jetzt eine Runde durch die Zimmer, und sie konnte sich ein Nickerchen gestatten. Es herrschte nächtliche, einsame Stille.
Im Gegensatz zu den meisten Kollegen mochte Mathilde die langen Nachtdienste. Meistens konnte sie in Ruhe mit dem einen oder anderen Patienten eine Tasse Tee trinken, zuhören, trösten, einfach Zeit haben. Da machte sie ihr eigenes Ding. Tagsüber standen alle unter Strom, hetzten von Termin zu Termin und machten sich gegenseitig das Leben schwer. Ihr 60. Geburtstag stand vor der Tür und sie hatte sich vorgenommen, sich höchstens noch von ihren Enkeln aus der Ruhe bringen zu lassen.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung auf dem Flur wahr. Sie erkannte Kurt Mager. Er huschte mit einem Arm voller Handtücher über den Gang. Er kam aus der Dusche. Komisch, sie hatte das Wasser gar nicht rauschen hören.
Jede Nacht das gleiche Spiel. Mager wusch sich stundenlang. Tagsüber schrubbte er sich rund zweihundert Mal die Hände. Und nachts benutzte er das Bad auf dem Flur, um seinen Bettnachbarn nicht zu stören. Er hatte es geschafft, sich an ihr vorbeizuschleichen.
Sie schaute auf die Uhr. Zeit für ihren Rundgang. Sie raffte sich auf und stellte ihren Becher in die Spüle. Mager tat ihr leid. Er versuchte, sich den Ekel von seinem Körper zu waschen. Er hatte die Kurve nicht gekriegt. Seit er mit seinen 52 Jahren gefeuert worden war, onanierte er in Sex-Kinos, hatte einen extremen Waschzwang entwickelt und musste sich seiner verkorksten Ehe stellen. Die arme Wurst, dachte sie und zog die Tür des Dienstzimmers hinter sich zu. Sie hielt sich rechts den Gang entlang, zuerst die hinteren Zimmer. Vorsichtig öffnete sie die Tür zu Zimmer 206 und hörte die beiden jungen Frauen, Kiana und ihre Bettnachbarin Katharina Waag, leise schnarchen. Ein Nachtlicht brannte. In den nächsten Zimmern war ebenfalls alles ruhig. In Zimmer 204 schlief Eva Kernt, die gerade einen amüsanten Liebeswahn auf den jungen Assistenzarzt der Station entwickelt hatte. Mathilde musste unwillkürlich grinsen. Doktor Meißner hingegen konnte über die glühenden Liebesbriefe nicht mehr lachen.
Nun das Zimmer des charmanten David Brömme und Kurt Mager. Sollte sie reinschauen? Mager war sicher wach, und dann müsste sie ihn zurechtweisen. Und was sollte das bringen? Lieber gleich zum Zimmer von Isabell Drost und Gabriele Henke. Dank des neuen Studienmedikaments schliefen sie in letzter Zeit ruhig die Nächte durch.
Sie öffnete die Tür und sah Gabriele Henke im schwachen Licht, das vom Flur her schien, mit angezogenen Beinen auf dem Boden kauernd. Barfuß. Die Fäuste an den Mund gepresst.
»Was ist denn hier los?«
Ein unverständliches Schluchzen kam von der Patientin. Mathilde hockte sich neben sie und berührte sie sanft an der Schulter. Gabriele Henke starrte auf den Boden. Ein zitterndes Häufchen Elend.
»Sie … aufgewacht«, stammelte sie.
So verstört hatte Mathilde die Frau noch nie erlebt. Sie trug nur ein dünnes Nachthemd, und das Fenster stand offen. Kein Wunder, dass sie zitterte. Ihre knallrot lackierten Fußnägel bildeten einen irritierenden Farbkontrast zum hellgrauen Linoleumboden. Mathilde richtete sich mühsam auf. Ihr lädiertes Knie knirschte. Die Patientin hob langsam eine Hand vom Mund und deutete mit einem Finger vage auf die Badezimmertür.
»Was macht Ihnen Angst? Da ist nichts.«
Zum Beweis machte Mathilde zwei Schritte auf die Badezimmertür zu und drückte den Lichtschalter.
Die Kacheln an den Wänden waren vergilbt. Das solide Bauwerk der 20er Jahre. In der vorderen Ecke tropfte einer der beiden alten Wasserhähne in das große Waschbecken. Ein Handtuch lag nachlässig halb im Becken. Darüber ein großer Spiegel. Nahezu blind. Etwas höher die alten Rohre der Wasserleitungen. Sie
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