Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
idealisiertes Postulat, das leider an der Wirklichkeit
scheiterte. In ihrem Kern aber war die Liga gut, auch ihre Organisation, denn im Kern stand der Mahaguru. Er war über jeden Zweifel erhaben. Seine
Vorträge, seine Schriften bewiesen es, vor allem aber seine innere Präsenz in der Meditation, seine Lichtgestalt, die vor dem inneren Auge erschien, wenn
man das Hju sang oder eine der fortgeschrittenen Techniken übte, die in den Weisheitsschulungen vermittelt wurden. Die innere Allgegenwart des Meisters
verband die Atmas. Sie war die Erfahrung, die alle Zweifel beseitigte. Kurz nur beruhigte Aron dieser Gedanke, dann schoss ihm der Dialog von Mason und
Campbell auf Bens Tonband durch den Kopf, die düsteren Anspielungen, die Walt auf Bali gemacht hatte, und alle Besänftigungen begannen wieder zu schwanken
im Wellengang wirrer Gedanken. Aron blickte aus dem Fenster. Tief unten, in metallen schimmerndem Meer, schwammen felsige Inseln, vom Morgengrauen aus dem
Dunkel gelöst. Im gleichen Augenblick flackerten die Kabinenlichter an. Die schnarrende Stimme der Stewardess wünschte einen guten Morgen und kündigte das
Frühstück an. Der Geruch aufgebackener Brötchen wehte durch die Sitzreihen, auf denen sich übermüdete Menschen dehnten und streckten. Aron rang mit
plötzlich einsetzender Übelkeit.
Stunden später stand er in der Schlange der Zollkontrolle, schob den Handwagen mit seinem Gepäck den voranrückenden Leuten nach, spürte flaues Rieseln in
seinem Körper, kämpfte mit aller Willenskraft dagegen. Für Momente glaubte er, nur sein eiserner Wille bewahre die Einzelteile des Körpers vor dem
Auseinanderbröckeln. Er hörte die Ansage, die seinen Namen ausrief, erst bei der zweiten Wiederholung: „Der Passagier Aron Endres wird gebeten, sich am
Informationsschalter zu melden.“
Als er kurz darauf den schlingernden Wagen durch die Halle manövrierte, sah er die beiden Ethik-Hüter, die auf ihn warteten, noch bevor er das Leuchtschild
des Informationsschalters entdeckte. Erschrecken fuhr in seinen Magen. Aron spürte es in jeder Zelle seines auseinanderdriftenden Körpers nachklingen, ein
Brennen, das jäh anschwoll und langsam verglühte. Doch er war zu übermüdet, um klare Gedanken zu fassen, folgte seinem Kurs wie ein Automat, ohne einen
Augenblick anzuhalten. Ein Ethik-Hüter kam auf ihn zu, ein untersetzter junger Mann mit flachem, teigigen Gesicht, das durch ein Lächeln nichts von seiner
Undurchschaubarkeit verlor. Aron hatte ihn an seinem dunkelblauen Anzug erkannt. Seine Kollegin, eine große, hagere Frau, blieb am Schalter stehen und
ordnete hektisch Papiere in ihrem Aktenkoffer. Auch sie war in das Dunkelblau der EHs gekleidet, in ein knappes Kostüm, das wie eine Uniform wirkte. Aron
dachte darüber nach, ob das Dunkelblau der Ethik-Hüter vom Hauptquartier vorgeschrieben war oder es sich zufällig in ihren Reihen verbreitet hatte. ,Die
Blaumiesen,’ hatte Ben sie manchmal genannt. Zugleich fragte etwas in ihm mit bohrender Schärfe, warum er sich gerade jetzt Gedanken über die
Kleiderordnung der Ethik-Hüter machte.
„Aron Endres?“, fragte der EH freundlich. Sein Lächeln verbreiterte sich, als Aron nickte. „Wie war der Flug? Anstrengend, was? Solche Flüge von Asien
haben es in sich. Aber jetzt erst einmal willkommen daheim, Aron.“ Der EH schüttelte Arons Hand.
„Was ist los? Ist etwas passiert?“ fragte Aron. Die übertriebene Freundlichkeit des EH war ihm nicht geheuer.
„Was soll passiert sein?“
Aron zuckte die Schultern. Der EH griff nach dem Bügel von Arons Gepäckwagen, während seine Kollegin mit forschen Schritten herankam. Alles an ihr strahlte
geschäftsmäßige Wichtigkeit aus. Die Absätze ihrer Pumps knallten wie Schüsse. Sie lächelte Aron kühl an.
„Nur eine Routinesache,“ erklärte sie. „Kein Grund zur Aufregung.“ Sie berührte Aron am Arm und setzte ihn in Bewegung, während der EH den Gepäckwagen
schob. Es wirkte wie eine Verhaftung. Aron war zu überrascht, um etwas dagegen zu unternehmen. Seine Müdigkeit war für Augenblicke wacher Erregung gewichen
und doch fühlte er hinter der Anspannung dämpfendes Rieseln der Erschöpfung. Er wusste nicht, welche Reaktion dieser Situation angemessen war. Natürlich
besaßen sie keinerlei Recht, ihn irgendwohin zu bringen. Doch jedes Aufbegehren, jede Weigerung hätte ihn verdächtig gemacht, würde Konsequenzen innerhalb
der Organisation nach sich ziehen, Konsequenzen, die
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