Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
mich verraten. Du bist keiner von den Denunzianten, die sich in der Liga hochdienen, indem sie andere bespitzeln. Ben hat mir
gesagt, dass du äußerlich noch an der Liga hängst, aber innerlich längst weiter bist.“
„Er hat mit dir über mich gesprochen?“
„Nur diese eine Bemerkung.“
„In welchem Zusammenhang?“ Aron, der in den Monaten seit Bens Tod immer wieder die Entwicklung ihrer Freundschaft, ihre letzten Begegnungen, ihre
Gespräche, ihre Pläne aus seiner Erinnerung geholt hatte, bis sie schließlich wie abgegriffene Fotografien schienen, fand hier unerwartet eine frische
Spur.
„Ben hat mir unter dem Siegel strengster Geheimhaltung verraten, dass er auf Bali seinen Vater treffen wird. Er hatte heimlich Kontakt mit ihm aufgenommen.
Er wollte der Sache mit dem Attentat auf den Grund gehen.“
„Ich weiß. Walt hat es mir gesagt.“
„Sie vereinbarten ein Treffen auf Bali. Ben sagte mir, er hätte es nicht einmal dir als seinem besten Freund gesagt, um dich vor den bevorstehenden
Akademieprüfungen nicht in Gewissenskonflikte zu bringen. ‚Er ist zwar innerlich auch längst weiter, aber äußerlich hängt er noch an der Liga‘, meinte er.
Das war der Zusammenhang. Er wollte, dass du unbelastet in deine Prüfungen gehst. Ben hat mir auf mein Drängen die Möglichkeit verschafft, mit Walt in
Kontakt zu treten. Das war die Gelegenheit, auf die ich lange gewartet hatte, um die Liga hochgehen zu lassen. Ich habe mit Walt telefoniert, habe ihm
meine Pläne erklärt, habe ihm gesagt, dass ich über einige private Kontakte zu großen Redaktionen verfüge, die an einer Enthüllungsstory über die Liga
interessiert wären. Damals wusste ich noch gar nicht, dass er all die Informationen, die ich von ihm haben wollte, in seinem Tagebuch aufgezeichnet hat.
Walt war interessiert. Die Redaktion der
Wahrheit
zu überzeugen, einen Artikel über die Mission auf Bali zu machen, war für mich kein Problem. Das
sind eben die Vorteile, wenn man es in der Liga zu etwas gebracht hat. Es hat sich leider nur terminlich verzögert. Ich wollte eigentlich schon nach Bali,
als Ben dort war. Aber Walt hat auf mich gewartet.“
„Auf Bali hat es so ausgesehen, als wären wir nur zufällig in das kleine Dorf mit dem Tempelfest gekommen.“
Judith schmunzelte. „Es war alles gut geplant, aber es musste wie ein Zufall aussehen. Walt ist aus gutem Grund sehr vorsichtig. Der Holzschnitzer, bei dem
wir unterwegs einkehrten, war ein Vertrauter Walts, der die ganze Sache arrangierte. Der einzige Zufall dabei war, dass du so hartnäckig warst, uns trotz
des Verbotes des Missionsleiters zu begleiten. Aber auch das wäre im Trubel des Festes kein Problem gewesen, ebenso wenig wie mein Fotograf Mark, der die
ganze Welt vergisst, wenn er nur durch seine Kamera glotzen kann. Aber du wurdest ohnmächtig. Die Balinesen brachten dich zu Walt. Ich habe erst später von
Walt erfahren, dass du Bens bester Freund bist.“
Aron stand auf und wanderte in dem kleinen Hotelzimmer umher. Wenn Judith die Wahrheit sprach, hatte Ben ihn behandelt wie ein unreifes Kind, vor dem man
Unbequemes verheimlicht, um es zu schonen. Stattdessen hatte er Judith, die er kaum kannte, ins Vertrauen gezogen. Vielleicht hatten die beiden etwas
miteinander gehabt. Für einen Augenblick regte sich Missmut über den Freund in Aron. „Warum sprichst du mit mir über die ganze Sache?“, fragte er schroff.
„Kein Grund zur Eifersucht, Aron. Hätte er dir früher davon erzählt, wärst du heute nicht hier als Weltbester deines Trimesters, sondern würdest für die
Wiederholungsprüfung büffeln und eine Deproschulung für Leute mit Prüfungsangst absolvieren.“
Aron winkte mürrisch ab.
„Ich spreche deshalb mit dir, weil du der einzige bist, der Walt überreden kann, das Gelbe Buch freizugeben.“
„Und du glaubst wirklich, ich würde etwas tun, das der Liga Schaden zufügt?“
„Es geht nicht um Schaden zufügen. Es geht darum, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Auch wenn deine Meinung über die spirituelle Seite der Liga im
Augenblick noch eine andere ist, ist das kein Grund, eine Wahrheit fortzuschieben, nur weil sie sich nicht mit der eigenen Ansicht deckt. Es steht sogar im
Buch der Erleuchtung
, dass es den Atmas um nichts anderes gehen sollte als um reine, unverfälschte Wahrheit.“
„Du redest wie Ben. Er riss auch Zitate aus dem
Buch der Erleuchtung
so aus dem Zusammenhang, dass es seinem Standpunkt nutzte. Woher willst
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