Schloss der Liebe
Kapitel Eins
Frühsommer 1277 Ost-Anglia. England Burg Oxborough. Stammsitz von Fawke von Trent, dem Grafen von Oxborough
Ihr Vater mochte sie zwar nicht, doch das würde er ihr nicht antun, niemals.
Während sie sich wieder und wieder sagte, dass das alles ein schrecklicher Albtraum war, hielt der Anblick des Mannes sie vollkommen gefangen. Die Luft schien sich in endlosen, unsichtbaren Bahnen um seine Gestalt zu legen; still und regungslos wie eine Statue stand er da. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er sich nicht vom Fleck rühren würde, ehe er nicht jeden einzelnen der Burgbewohner, die sich hier im Großen Saal von Oxborough versammelt hatten, eingehend betrachtet und gemustert hatte. Erst dann würde er handeln.
Der Ausdruck seines verschlossenen Gesichts war ruhig und gelassen. Sonnenlicht drang in grellen Strahlen durch die offenen Türen des Saales und bildete einen leuchtenden Kranz um seinen bewegungslosen Körper. Im Schatten der steinernen Wendeltreppe verborgen, starrte sie ihn an. Sie wollte ihn nicht sehen, sie weigerte sich zur Kenntnis zu nehmen, dass er auf Oxborough weilte. Und doch stand er da und machte keineswegs den Eindruck, als habe er die Absicht, ihr Zuhause je wieder zu verlassen.
Seine Augen waren blau wie das Meer in hellem Morgenlicht. Zugleich schienen sie sehr alt und verrieten ein Maß an Wissen und Erfahrungen, das ein Mann seines Alters noch nicht haben sollte. Es war etwas Abweisendes in ihnen, als bliebe ein Teil von ihm vor der Außenwelt verschlossen. Von ihrem Platz unter der Treppe aus konnte sie die Kraft fühlen, die von ihm ausging, seine Entschlossenheit und vollkommene Selbstbeherrschung, seinen bewusst zur Schau gestellten Hochmut. Sie hatte das Gefühl, des Teufels bestem Freund zu begegnen.
Sein vornehmer grauer Umhang bewegte und bauschte sich, obwohl kein Luftzug ging. Die schwarze Peitsche, die er um sein Handgelenk gewickelt trug, schien selbst in der stickigen, stehenden Luft leise zu schnalzen. Doch er machte nicht die leiseste Bewegung. Schweigend und ruhig stand er da und blickte sich abwartend um.
Er trug keine Rüstung, die Peitsche an seinem Handgelenk und das mächtige Schwert, das in einer Scheide von seinem breiten Ledergürtel hing, waren seine einzigen Waffen. Er war von Kopf bis Fuß in Grau gekleidet, sogar seine Stiefel waren aus weichem, geschmeidigem grauen Leder gefertigt. Seine Tunika bestand aus feiner, zinngrauer Wolle, von der sich der enganliegende Rock, den er darunter trug, in hellerem Grau abhob. Selbst die kreuzweise um seine Hosen geschlungenen Beinbinden waren aus grauem Leder.
Nein, ihr Vater konnte das unmöglich ernst meinen. Es war völlig unsinnig anzunehmen, dass dies der Mann war, den ihr Vater nach Oxborough geholt hatte und den sie heiraten sollte. Angst war nicht das Wort für das, was Hastings empfand. Es war blankes Entsetzen. Diesen Mann sollte sie heiraten? Er sollte ihr Ehemann, ihr Herr und Gebieter werden? Nein, das war ganz und gar ausgeschlossen, viel eher schien er ein Gesandter des Hades oder ein Bote aus der geheimnisvollen Schattenwelt Avalon zu sein.
Diesen Mann wollte ihr Vater in das Geschlecht der
Oxboroughs aufnehmen? Ihm all seine Besitztümer und Ländereien übereignen? Das bedeutete nicht zuletzt, dass alle seine Titel auf diesen Mann übergehen würden, denn alles, was er an Nachkommen hervorgebracht hatte, war eine einzige Tochter, die für die Weiterführung des Namens völlig wertlos war. Es sei denn, sie heiratete. Es sei denn, sie verbände ihr Schicksal mit dem dieses Mannes, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
War das wirklich der Mann, mit dem Graelam de Moreton, der langjährige, treue Freund ihres Vaters, sie verheiraten wollte? Lord Graelam war schließlich auch ihr Freund. Sie dachte daran, wie er sie immer in die Luft geworfen hatte, als sie nicht älter als sieben gewesen war und vor Vergnügen gejuchzt hatte. Graelam war wie ein zweiter Vater für sie - und selbst er wollte, dass sie dieses Wesen, das nicht von dieser Welt schien, zum Mann nahm? Graelam selbst, der eben mit hallenden Schritten den Großen Saal betrat, war es gewesen, der ihn als verlässlichen Krieger gepriesen hatte, der höchsten Respekt und Achtung verdiente und dem seine Ehre teurer als seine Seele war. Hastings wusste nicht, was das bedeutete. Natürlich sollte sie davon eigentlich gar nichts wissen, aber an jenem Tag vor zwei Monaten hatte sie, verborgen im Schutz des mächtigen Stuhls ihres
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