Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
Aufmerksamkeit auf sie richte, treten lange verdrängte, vor mir selbst
versteckte Bilder in plastischer Klarheit hervor. Ich verstehe nicht, wie ich sie jemals vergessen konnte. Ted steht neben mir, wenn ich schreibe, der tote
Ted, mein Freund. Er schaut mir über die Schultern und macht bissige Bemerkungen über meinen unzureichenden Stil. Auch John ist da, der mich in die Pflicht
nahm, diese Aufzeichnungen zu beginnen, der im Sterben hoffte, sie könnten nützen, eines Tages doch noch die Lüge aufzudecken. Ich bezweifle es, doch ich
habe ihm mein Wort gegeben. Ich darf ihn nicht enttäuschen. Ich habe gelernt, den Toten Respekt zu erweisen, denn sie sind meine einzigen Freunde in dieser
Abgeschiedenheit. So schreibe ich also für John und für Ted…
Alles begann an einem für San Francisco ungewöhnlich lauen Juniabend. Ich erinnere mich an diesen Abend so deutlich, als sei er gestern gewesen, denn er
markierte einen Wendepunkt in meinem Leben, dessen Bedeutung ich erst Jahre später erkennen sollte. Heute scheint mir, als sei ich, wie von einem Trichter
eingefangen, unausweichlich auf diesen Abend hingeglitten. Eine Reihe von Veränderungen war abrupt in mein Leben getreten und hatte seine bis dahin
sorglosen, unbeschwerten Bahnen jäh verändert. Mein Vater war zwei Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich lebte zu der Zeit in München.
Mein Vater hatte mich nach dem Abschluss des College nach Deutschland geschickt, um bei einem Verlag, der Titel von uns in Lizenz übernommen hatte und
dessen Besitzer mit meinem Vater freundschaftlich verbunden war, ein Praktikum zu machen. Als seinem einzigen Kind war es mir bestimmt, eines Tages den
Verlag zu übernehmen, den er aufgebaut hatte und mit zähem Engagement leitete. Als der Unfall passierte, war ich kaum ein Jahr in München und hatte
begonnen, mich in dieser Stadt einzuleben, Freunde zu finden, eine Freundin auch, die später meine Frau werden sollte. Meinem Vater zuliebe hatte ich auf
dem College Deutsch gelernt, denn es war immer klar gewesen, dass ich nach dem Studium einige Zeit in Deutschland verbringen würde. „Dort haben sie die
Buchdruckerkunst erfunden. Von dieser Tradition können wir lernen,“ hatte mein Vater gesagt und ich hatte als guter Sohn nur genickt.
Wenn ich auf meine Jugend zurückblicke, sehe ich den bestimmenden Vater und mich als einen Sohn, der sich widerstandslos in die ihm zugedachte Rolle fügt.
Meine Mutter war früh gestorben – ich war zwölf gewesen. Der Verlust der über alles geliebten Frau hatte meinen Vater verschlossen gemacht und ihn in die
Fluchtburg seiner Arbeit getrieben. Der Verlag wurde sein einziger Lebensinhalt. Meine Erziehung hatte in seinen Augen nur das einzige Ziel, mich auf meine
Aufgabe als künftigen Verleger vorzubereiten. Ich habe mich nie gegen diese Vorbestimmung gewehrt, habe brav meine Schuljahre absolviert und schließlich in
Stanford studiert, meinen Masters gemacht, wie mein Vater es wünschte. Ich habe mich nie gegen ihn aufgelehnt, vielleicht, weil ich ihm nach dem Tod meiner
Mutter, der ihn so schrecklich getroffen hatte, keinen weiteren Schmerz bereiten wollte. Vielleicht auch, weil es angenehm war, sich als Sohn aus reichem
Haus durch das Studium treiben zu lassen und die ausgelassenen sechziger Jahre aus vollen Zügen zu genießen, ohne Sorgen um eine Zukunft, die unverrückbar
feststand und nicht die schlechteste schien. Der Gedanke, den Verlag zu übernehmen, hat mich nie abgeschreckt, im Gegenteil, schon als Kind genoss ich es,
mich als Chef über die Handvoll Angestellte zu fühlen, die für meinen Vater arbeiteten. Ich mochte die Autoren, die regelmäßig in unserem Haus zu Gast
waren und lauschte ihren Berichten und Diskussionen mit Ehrfurcht. Am meisten Spaß aber machte es mir, wenn mich mein Vater in die Druckereien mitnahm, in
denen seine Bücher gesetzt und gedruckt wurden. Der Geruch nach Druckerschwärze, der Lärm der rasend schnell rotierenden Druckwalzen, der Rhythmus, in der
die Maschinen die bedruckten Bogen ausstießen, das Klappern der damals noch gebräuchlichen Bleisatzmaschinen, das alles sah ich von einer Aura der
Bedeutsamkeit umgeben. Es machte mich stolz auf meinen Vater, der wie selbstverständlich über diese faszinierenden Dinge gebot und von den Druckern und
Setzern mit höchstem Respekt behandelt wurde. Was in den Büchern stand, die mein Vater verlegte, hatte mich weit weniger interessiert als das
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