Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
im richtigen Augenblick als Waffe gegen diese
Verbrecherbande. Vielleicht lässt sich dieses Monstrum doch noch zerstören. Schreib es auf, für Ted und für mich, hörst du? Versprich es mir. Es ist nicht
leicht, an etwas zu sterben, das man nicht kennt. Besonders für einen Arzt. Und nimm das mit. Hier! Ich habe es die ganze Zeit in meiner Hand gehalten. Ich
werde es nicht mehr brauchen.“
„Was ist das?“
„Erinnerst du dich an den antiken Stein mit dem Zeichen der Liga und der komischen Inschrift, den ich seinerzeit Jason geschenkt habe, oder besser, den er
mir in seinem Faible für alles Okkulte abgeluchst hat? Er war ganz wild danach, als er ihn bei einem Besuch in meinem Haus in einer Vitrine entdeckte. Als
ich hinter der Bühne den toten Ken untersuchte, spürte ich in seiner Anzugtasche etwas Hartes. Offenbar hat Jason den Stein an seine Nachfolger
weitervererbt. Ich nahm ihn an mich, aus Pietät meinem Urgroßvater gegenüber, der ihn seinerzeit in unsere Familie gebracht hat. Jahrzehntelang lag er in
irgendeiner Ecke unseres Hauses herum, bis ihn Jason aufstöberte. Auf den ersten Blick hat er ihn entdeckt, zwei Minuten nachdem er mein Haus betreten
hatte, als sei er nur deswegen gekommen. Nimm du ihn jetzt als Andenken an mich. Ich will nicht, dass er diesem Panetta oder irgendeinem anderen Fanatiker
in die Hände fällt. Irgendetwas muss es mit diesem Stein auf sich haben. Halte mich nicht für verrückt, aber das verdammte Ding war heiß wie eine
Grillkartoffel, als ich es aus Kens Tasche holte. Ich habe mir die Finger daran verbrannt. Aber nun leb wohl. Ich höre die Schwestern. Geh jetzt! Sofort!
Nimm das Band aus dem Gerät und verschwinde aus diesem Krankenhaus. Lass dich von nichts und niemandem aufhalten. Lass die Ärzte reden. Hau einfach ab.“
„John…“
„Los, wird’s bald! Pass gut auf dich auf. Verschwinde von der Bildfläche so schnell du kannst.“
Ein Klicken beendete die Aufnahme.
Eine andere Stimme sprach, deutlicher und näher, ohne Störgeräusche: „Ich kann es nicht glauben!“
Es war Bens Stimme! Er hatte die Aufnahme wahrscheinlich mit seinem Walkman gemacht, hatte das eingebaute Mikrofon vor den Lautsprecher gehalten, über den
ihm diese Aufnahme vorgespielt worden war. Erst nach seinem spontanen Ausruf hatte er abgeschaltet. Ein weiteres Klicken brach die Aufnahme ab. Sofort
setzte der technisch perfekte Klang der
Heavenly Lights
ein. Ungeduldig drehte Aron das Band um und suchte die Rückseite nach einer weiteren
Botschaft ab, doch vergebens. Ein Musikstück reihte sich an das andere.
Aron nahm die Kopfhörer von den Ohren. Durch die Vorhänge sickerte bleiches Schneelicht.
Kapitel 3
Das gelbe Buch I
Ich beginne diese Aufzeichnungen, um mir Klarheit zu verschaffen über die vergangenen Jahre und Jahrzehnte, die wie ein dunkles Vakuum scheinen, in dem
kein Raum blieb für unterscheidendes Bewusstsein und Selbstreflexion. Vielleicht will ich auch nur mein Gewissen beruhigen, in der Hoffnung, eine solche
Niederschrift könnte mich befreien von der Schuld, die auf mir lastet. Aber lässt sich eine Lüge tilgen, wenn ihr spät, zu spät, ein Funke der Wahrheit
entgegengesetzt wird? Die Lawine, die sie auslöste, ist zu gewaltig, als dass Worte sie noch aufhalten könnten. Trotzdem beginne ich zu schreiben, obwohl
ich um die Vergeblichkeit meines Tuns weiß. Ich schreibe aus Verzweiflung und um den Schmerz dieser Verzweiflung zu lindern. Ich schreibe mit Bleistift in
ein in gelbe Seide gebundenes Buch, das mir Ted vor Jahren schenkte mit der Bemerkung, ich solle meine amourösen Abenteuer darin eintragen, um die
Übersicht zu behalten. Ich beginne diese Aufzeichnungen in einem Land, in dem Computer nur schwer zu betreiben sind, weil Stromausfälle und
Spannungsschwankungen immer wieder die Grenzen moderner Technik aufzeigen. Zudem habe ich den Glauben verloren an übermächtige Technik, an
Rechtschreibautomatik, Trennhilfen und Programme, mithilfe derer man einen Text auf das geistige Niveau bestimmter Zielgruppen abstimmen kann, wie es
Andersen bei seinen Manuskripten zu tun pflegte. So mühe ich mich denn ab mit Papier, einem Stift, muss falsch gesetzte Worte streichen, Vergessenes mühsam
hineinflicken, und doch, ich spüre, dass es mir wohltut, zu schreiben, mich zu öffnen, Dinge aus mir zu befreien, die eingeschlossen waren in einem Zwinger
aus Machtgier, Unwissenheit und Selbstbetrug. Es ist sonderbar: jetzt, da ich meine
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