Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
konnte. Allerdings ist dieser Stein
einzigartig und ungewöhnlich. Als ich den Stein zum ersten Mal in Howard Jasons Besprechungszimmer sah, schienen mir die Schriftzeichen der Keilschrift der
Sumerer zu ähneln und das dargestellte Dreieck im Kreis glich geometrischen Darstellungen, wie sie sich auf altbabylonischen mathematischen Tontafeln
finden. Ich bin auf dem Gebiet mesopotamischer Schriften kein Experte und sah den Stein nur für wenige Augenblicke in schlechtem Licht. Dank Ihrer Fotos
konnte ich die Inschrift genauer analysieren und stellte fest, dass sie nicht identifizierbar und keinem bekannten Schriftsystem zuzuordnen ist. Sollte der
Stein also echt sein, woran ich nicht zweifle, stellt er eine archäologische Sensation dar – die schriftliche Aufzeichnung einer bislang unbekannten
Kultur. Die Präzision und Feinheit, mit der die Schriftzeichen in den Stein gemeißelt und das Dreieck im Kreis als Relief herausgearbeitet wurden, lässt
darauf schließen, dass es sich bei dieser unbekannten Kultur um eine in höchstem Maße entwickelte handelt. Wie ich meine Kollegen kenne, würden sie alles
daransetzen, diesen Stein als Fälschung zu entlarven, denn er würde das archäologische Weltbild um eine Komponente erweitern, die man bisher als
Spekulation von Esoterikern abtat. Wenn ich mich recht entsinne, haben auch Sie bei unserer ersten Begegnung meine Erwähnung einer hoch entwickelten
Kultur, die der ägyptischen voranging, milde belächelt. Daher versuche ich Ihre Fragen vom Standpunkt des Archäologen zu beantworten und nicht als
esoterischer Utopist, für den Sie mich vielleicht halten.
Wie ich bereits erwähnte, befindet sich ein Stein in meinem Besitz, der mit großer Wahrscheinlichkeit das Gegenstück zu dem Fragment darstellt, von dem Sie
mir Bilder schickten. Es scheint, als sei die steinerne Platte in zwei Hälften zerbrochen, die jetzt, nach vielen Jahrtausenden, wieder zusammenfinden. Nur
ein Vergleich der beiden Originale, eine Untersuchung der Bruchstellen und der Gesteinsart, kann hier vollständige Sicherheit bringen – ich hoffe, dass
dieser Vergleich bei unserer Begegnung möglich sein wird – aber auch anhand Ihrer Fotos habe ich keine Zweifel mehr, dass es sich so verhält. Zum einen
scheinen die Bruchstellen der beiden Fragmente genau ineinander zu passen – natürlich nicht völlig nahtlos, da beim Zerbrechen des Steins und auch später
Partikel abgebröckelt sind. Trotzdem ist die Zusammengehörigkeit der beiden Teile eindeutig. Eine weitere Tatsache belegt dies: Der Stein in Ihrem Besitz
weist rechts von dem Zeichen des Dreiecks im Kreis drei ägyptische Hieroglyphen auf, die in die Bruchstelle des Steins laufen. Dieser winzige Teil einer
ägyptischen Inschrift wird durch meinen Stein ergänzt. Die Hieroglyphen passen in jeder Hinsicht exakt zueinander und die Bedeutung der Inschrift auf
meinem Stein wird durch die drei Hieroglyphen auf Ihrem Stein sinngerecht vervollständigt. Die drei Hieroglyphenzeichen auf Ihrem Stein stehen für ein j
und ein t sowie ein nicht gesprochenes Determinativzeichen für „Ort“ oder „Stätte“. Dadurch ergibt die entsprechende, übrigens von rechts nach links zu
lesende Zeile auf meinem Stein Sinn. Zusammen gelesen hat das auseinandergebrochene Wort die Lautzeichen h·t·jj·t plus das Determinativzeichen und lässt
sich gemäß der heute üblichen Transkription als „Hetemit“ lesen. Unter diesem Begriff verstanden die Ägypter jene „Stätte der Vernichtung“, die noch
unterhalb der Unterwelt in tiefster Urfinsternis liegt.
Die Hieroglypheninschrift auf meinem Stein ist zwar ungewöhnlich, ohne aber das Zeug zu einer archäologischen Sensation zu haben. Sie fällt in die
Kategorie der zahllosen Zauber- und Bannsprüche und würde vermutlich ohne weitere Beachtung als eine Laien nicht vermittelbare Kuriosität in Museumsdepots
verschwinden. Zur Sensation wird der Stein nur in seiner Gesamtheit: Ein Zeichen mit einer Inschrift in einer nicht identifizierbaren Sprache und auf dem
gleichen Stein ein ägyptischer Text, der offenbar die fremden Elemente mit einem Bann belegt. Die Echtheit meines Steins steht im übrigen außer Zweifel,
obwohl sein Fundort nur vage als Karnak angegeben werden kann. Ich bin überzeugt, dass dieser Fundort in Oberägypten nicht der Ursprungsort des Steins ist,
sondern dass er dort, im Reichstempel des Amun, dem Sitz der Macht des Neuen Reiches, als überliefertes Stück aus viel
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