Der Name der Rose
Schmälerung ihrer Privilegien fuhren, und darum mußten die Ausgeschlossenen, die sich ihres Ausgeschlossenseins innezuwerden begannen, als Ketzer verbrannt werden – gleichgültig, welcher häretischen Lehre sie folgten. Auch den Ausgeschlossenen ging es, verblendet durch ihren Ausschluß, in Wahrheit nicht um irgendeine Lehre. Zu glauben, jemand sei wirklich an ihrer Lehre interessiert, ist die Illusion aller Häresien. Jeder ist ketzerisch, jeder ist rechtgläubig, nicht um den Glauben geht es, den eine Bewegung anbietet, sondern allein um die Hoffnung, die sie weckt. Jede häretische Lehre ist stets nur das Banner, die Kampfparole einer Revolte gegen realen Ausschluß. Kratz an der Häresie, und du findest den Aussätzigen. Jeder Kampf gegen die Häresie will in Wahrheit nur eines: daß die Aussätzigen bleiben, was sie sind. Was willst du da von den Aussätzigen verlangen? Daß sie feine Unterscheidungen treffen zwischen wahren und falschen Elementen im Dogma von der Dreifaltigkeit oder in den Definitionen der Eucharistie?
Ach, Adson, dergleichen sind schöne Spielchen für uns Theologen. Das einfache Volk hat andere Probleme.
Und merke: Es löst sie immer falsch. Darum bringt es die Ketzer hervor.«
»Aber warum werden die Ketzer dann von manchen Herren ermuntert?«
»Weil sie manchen Herren ganz gut in den Kram passen – als Spielsteine in einem Spiel, bei dem es meist nicht um Fragen des Glaubens geht, sondern um Fragen der Macht.«
»Ist das der Grund, warum die römische Kirche ihre Gegner stets als Ketzer bezichtigt?«
»Ja, und aus demselben Grund anerkennt sie als rechtgläubig die Ketzerei, die sie unter ihre Kontrolle zu bringen vermag, oder die sie akzeptieren muß, weil sie zu stark geworden ist und es nicht ratsam wäre, sie als Gegner zu haben. Natürlich gibt es dafür keine feste Regel, es kommt immer auf die Menschen und auf die Umstände an. Genauso verhalten sich auch die weltlichen Herren. Vor fünfzig Jahren erließ die Gemeinde von Padua eine Verordnung, in der als Strafe für Mord an einem Geistlichen die Zahlung eines relativ hohen Bußgeldes festgesetzt wurde . . .«
»Das ist doch keine Strafe für Mord!«
»Genau. Es war eine indirekte Ermunterung der Wut des Volkes auf den Klerus, denn die Gemeinde lag damals im Streit mit dem Bischof. Nun verstehst du auch, warum die Gläubigen zu Cremona vor einigen Jahren den Katharern Unterstützung gewährten: nicht aus Glaubensgründen, sondern um der Kirche in 127
Der Name der Rose – Dritter Tag
Rom einen Denkzettel zu verpassen. Manchmal ermuntern die Ratsherren einer Stadt auch die Ketzer, das Evangelium in die Volkssprache zu übersetzen, denn die Volkssprache ist heutzutage die Sprache der Städte, Latein ist nur noch die Sprache Roms und der Klöster. Oder sie ermuntern die Waldenser zu behaupten, alle Menschen, Männer und Frauen, Große und Kleine, seien gleichermaßen imstande zu lehren und zu predigen, und wenn ein Handwerksbursche zehn Tage lang unterwiesen worden sei, könne er sich einen anderen suchen, um dessen Lehrer zu werden . . .«
»Womit sie den Unterschied auslöschen, der die Kleriker unersetzlich macht! Aber wie kommt es dann, daß auch die städtischen Magistrate manchmal gegen die Ketzer vorgehen und daß sie der Kirche helfen, sie auf den Scheiterhaufen zu bringen?«
»Weil sie merken, daß ein weiteres Umsichgreifen der Ketzerei auch die Privilegien der Laien, die in der Volkssprache reden, antasten würde. Auf dem Laterankonzil im Jahre 1179 (du siehst, diese Geschichten reichen bald zweihundert Jahre zurück) warnte bereits Walter Map vor den Folgen einer zu großen Nachsicht gegenüber den Jüngern des Wanderpredigers Waldes, den ersten Waldensern, die er Idioten und Illiteraten nannte. Er sagte, wenn ich mich recht entsinne, sie hätten keine feste Bleibe, sie liefen barfuß herum ohne jede Habe, alles gemeinschaftlich teilend, als nackte Jünger dem nackten Christus folgend; noch sei ihre Zahl zwar verschwindend gering und ihr Auftreten äußerst bescheiden, weil sie Ausgeschlossene seien, doch wenn man ihnen zuviel Raum lasse, würden sie eines Tages alle verjagen. Deswegen haben die Städte dann später auch häufig die Bettelorden begünstigt und insbesondere uns Franziskaner, denn wir erlaubten ihnen den Aufbau einer harmonischen Wechselbeziehung zwischen dem Bedürfnis nach Buße und dem städtischen Leben, zwischen der Kirche und den Bürgern, die an ihren Märkten interessiert sind
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