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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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ihrer Gegend predigt, der durch ihr Dorf kommt oder auf ihren Plätzen spricht. Und genau das machen sich die Feinde der Ketzer und Reformatoren zunutze. Den erschrockenen Leuten von der Kanzel herab ein einziges, undifferenziertes Ketzertum vor Augen zu führen, das womöglich im gleichen Zuge sowohl die Absage an die geschlechtliche Lust als auch die fleischliche Kommunion der Leiber propagiert, ist heutzutage gute Predigerkunst. Denn sie präsentiert die Vielfalt der Häresien als ein einziges großes Knäuel teuflischer Widersprüche, das den gesunden Menschenverstand beleidigt.«
    »Also gibt es keinerlei Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Ketzergruppen, und es beruht auf teuflischem Blendwerk der Hölle, wenn ein armer Tropf, der vielleicht gern ein Joachimit oder ein Spiritualer geworden wäre, statt dessen den Katharern in die Hände fällt?«
    »Nein, lieber Adson, so ist es nun auch wieder nicht. Fangen wir nochmal von vorn an – und bitte glaube mir, was ich dir hier zu erklären versuche, ist mir, so fürchte ich jedenfalls, selber nicht völlig klar. Meines Erachtens liegt der entscheidende Irrtum darin, daß man meint, erst käme die Ketzerei und dann das Laienvolk, das sich ihr hingibt (und sich in ihr verliert). In Wahrheit kommt erst die Lage des einfachen 125
    Der Name der Rose – Dritter Tag
    Volkes und dann die Ketzerei.«
    »Wie soll ich das verstehen?«
    »Nun, du kennst doch die gängige Vorstellung von der Konstitution des Christen Volkes. Eine große Herde, bestehend aus weißen und schwarzen Schafen, zusammengehalten von scharfen Hunden, das heißt von den Kriegern oder der weltlichen Macht, vom Kaiser und seinen Fürsten, das Ganze geführt von sorgsamen Hirten, das heißt von den Klerikern, den Interpreten der Worte Gottes. Das Bild ist klar.«
    »Aber es stimmt nicht: Die Hirten liegen im Kampf mit den Hunden, weil jeder die Rechte des anderen für sich beansprucht.«
    »Richtig. Und genau das ist es, was die Natur der Herde vernebelt. Die Hirten und Hunde, vollauf damit beschäftigt, sich gegenseitig zu zerfleischen, kümmern sich nicht mehr um die Herde. Ein Teil von ihr bleibt draußen.«
    »Wo draußen?«
    »An den Rändern – Bauern, die keine Bauern mehr sind, weil sie kein Land haben oder weil ihr Land sie nicht mehr ernährt, Bürger, die keine Bürger mehr sind, weil sie zu keiner Zunft oder Innung gehören, kleines Volk, leichte Beute für jedermann. Bist du auf deinen Reisen niemals den Aussätzigen begegnet?«
    »Doch, einmal sah ich eine ganze Schar, es waren mindestens hundert. Entstellte Körper, das Fleisch zerfallen und gänzlich farblos, auf Krücken gestützt, die Lider geschwollen, die Augen blutunterlaufen. Sie sprachen nicht, sie schrien auch nicht, sie fiepsten wie Mäuse . . .«
    »Sie sind für das Volk der Christen die anderen , die an den Rändern der Herde leben. Die Herde haßt sie, und sie hassen die Herde. Sie wünschen ihr den Tod, sie wollen die ganze Herde mit ihrem Aussatz anstecken.«
    »Ja, ich entsinne mich einer Geschichte von König Marke, der die schöne Isolde verurteilen mußte. Er wollte sie gerade dem Scheiterhaufen überantworten, da kamen die Aussätzigen und sagten zu ihm, der Scheiterhaufen sei eine geringe Strafe, es gebe noch eine viel schlimmere. Und sie riefen: Gib uns Isolde, auf daß sie uns allen gehöre, das Böse entzündet unsere Begierden, überantworte sie deinen Aussätzigen! Siehe, unsere Lumpen kleben an unseren eitrigen Wunden, und die da an deiner Seite sich schmückt mit kostbaren Stoffen, pelzgefüttert, und edlem Geschmeide, wenn sie erst den Hof der Aussätzigen erblickt, wenn sie einziehen muß in unsere elenden Hütten und sich zwischen uns betten muß, dann wird sie ihre Sünde richtig erkennen und diesem schönen Reisigfeuer eines Tages noch nachtrauern!«
    »Du hast ja eine kuriose Lektüre für einen Novizen des heiligen Benedikt«, spottete William, und ich errötete, denn natürlich wußte ich sehr genau, daß ein Novize keine Liebesromane lesen sollte, doch sie zirkulierten unter uns Jungen im Kloster von Melk, und wir lasen sie heimlich nachts bei Kerzenschein.
    »Aber lassen wir das«, fuhr William fort, »wichtig ist, daß du verstanden hast, was ich sagen wollte. Die ausgeschlossenen Leprakranken würden am liebsten alle anderen mit in ihr Verderben ziehen. Und je mehr du sie ausschließt, desto schlimmer werden sie, und je mehr du sie dir als eine Schar von Lemuren vorstellst, die immerfort auf

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