Der Name der Rose
war es den Erbauern dieser heiligen Stätte gelungen, die Vorschriften der korrekten Ausrichtung akkurater noch zu befolgen, als es Honorius Augustoduniensis oder Wilhelm Durandus je hätten verlangen können. Am Stand der Sonne erkannte ich die genaue Ausrichtung des Kirchenportals nach Westen, mithin wiesen Chor und Altar nicht minder genau nach Osten. Und die Morgensonne konnte genau im Moment ihres Aufgangs sowohl die Mönche im Dormitorium wecken als auch das Vieh in den Ställen. Nie habe ich eine schönere und trefflicher angelegte Abtei gesehen, obwohl ich später in meinem Leben durchaus nach Sankt Gallen kam und nach 21
Der Name der Rose – Erster Tag
Cluny und nach Fontenay und in andere Abteien, die womöglich noch größer waren als diese, nicht aber so wohlproportioniert. Von allen anderen jedoch unterschied sich diese durch die Massigkeit ihres festungsartigen Aedificiums. Auch ohne den geübten Blick eines Baumeisters sah ich sofort, daß dieser Bau wesentlich älter sein mußte als die übrigen, errichtet womöglich zu anderen Zwecken, so daß die restliche Anlage wohl erst in späteren Zeiten hinzugefügt worden war – freilich derart harmonisch, daß die Ausrichtung des Aedificiums sich jener der Kirche aufs schönste anpaßte, beziehungsweise umgekehrt.
Wahrlich, unter allen Künsten ist die Architektur in der Tat diejenige, die am kühnsten trachtet, in ihrem Rhythmus jene Ordnung des Universums widerzuspiegeln, welche die Alten kosmos nannten, was soviel heißt wie prachtvoll geschmückt, gleicht sie doch einem prächtigen Tier, das wir staunend bewundern ob der Vollendung und herrlichen Proportion seiner Glieder. Und gelobt sei der Herr Unser Schöpfer, der – wie Augustinus lehrt – alles so trefflich eingerichtet in Zahlen, Gewichten und Maßen!
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Der Name der Rose – Erster Tag
ERSTER TAG
TERTIA
Worin Bruder William ein lehrreiches Gespräch mit dem Abt führt.
Der Cellerar war ein feister Mensch mit groben, aber jovialen Zügen, kahl, aber noch rüstig, klein und flink. Er geleitete uns zu unseren Zellen im Pilgerhaus. Genauer gesagt, er geleitete uns zu der für meinen Meister vorgesehenen Zelle und versprach, am nächsten Tag auch mir eine freizumachen, denn ich sei schließlich, wenngleich Novize, immerhin Gast der Abtei und folglich mit größter Ehrerbietung zu behandeln. Für die erste Nacht müsse ich jedoch vorliebnehmen mit einer länglichen Nische in der Zellenwand, die er mit frischem Stroh hatte auslegen lassen. Dort nächtigten, fugte er erklärend hinzu, gelegentlich die Diener adliger Herren, wenn diese Wert darauf legten, während ihres Schlafes bewacht zu werden.
Die Mönche brachten uns Wein und Käse, Oliven, Brot und süße Rosinen und ließen uns dann allein, auf daß wir uns ausruhen könnten. Wir aßen und tranken mit großem Appetit. Mein Meister hatte nicht die strenge Gewohnheit der Benediktiner, beim Mahle zu schweigen. Doch er sprach stets so klug und erbaulich, daß es war, als läse ein Mönch aus den Viten der Heiligen vor.
Mich beschäftigte immer noch die Geschichte mit dem Rappen Brunellus, und so fragte ich William, kaum daß wir allein waren: »Als Ihr die Spuren im Schnee und an den Zweigen laset, kanntet Ihr doch Brunellus noch nicht. In gewisser Weise sprachen doch diese Spuren nur ganz allgemein von Pferden, oder jedenfalls von einem Pferd dieser Art und Rasse. Könnte man daher nicht sagen, daß uns das Buch der Natur lediglich abstrakte Wesenheiten verkündet, wie zahlreiche ehrwürdige Theologen lehren?«
»Keineswegs, lieber Adson«, erwiderte mir der Meister. »Gewiß gaben mir jene Spuren für sich genommen nur das Pferd als verbum mentis in den Sinn, und als solches hätten sie es mir überall in den Sinn gegeben. Doch an diesem Ort und zu dieser Stunde des Tages lehrten sie mich, daß zumindest eines von allen denkbaren Pferden dort vorbeigekommen sein mußte. Also befand ich mich bereits auf halbem Wege zwischen der Vorstellung des Begriffes ›Pferd‹ und der Erkenntnis eines einzelnen Pferdes. Und in jedem Falle war mir das, was ich vom Pferd im allgemeinen wußte, durch eine besondere Spur ins Bewußtsein gerufen worden. Ich war also in diesem Augenblick sozusagen gefangen zwischen der Besonderheit jener Spur und meiner Unkenntnis, die gerade erst angefangen hatte, die noch recht blasse Gestalt einer allgemeinen Vorstellung anzunehmen. Wenn du etwas von weitem siehst und nicht weißt, was es ist, wirst du dich damit
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