Der Name der Rose
verabreichen. Aber das genau war anscheinend die Schwäche der Fratizellen, daß sie die Konventionen nicht gebührend achteten, und vielleicht war ja auch ein Gran Wahrheit an jenem Gerede, das ihnen nicht nur ketzerische Gedanken und Worte, sondern auch einen zweifelhaften Lebenswandel nachsagte (wie es ja auch von den Katharern immer hieß, sie seien Bulgaren und Sodomiten).
Mit diesen Gedanken beschäftigt, gelangte ich zur Salvatorkirche, wo der Prozeß stattfand, doch ich konnte wegen der großen Volksmenge, die sich davor versammelt hatte, nicht hinein. Ein paar besonders Neugierige waren indes zu den vergitterten Fenstern emporgeklettert, so daß sie sehen und hören konnten, was drinnen geschah, und es den anderen draußen berichteten. Die Inquisitoren waren gerade dabei, dem Angeklagten das Geständnis vorzulesen, das er wenige Tage zuvor gemacht und worin er gesagt hatte, Christus und seine Jünger hätten »kein einzig Ding besessen zum Eigentum, weder als einzelne noch gemeinsam«, doch Michele protestierte gegen den Zusatz des Protokollanten, er habe daraus »viele falsche Konsequenzien« gezogen, und rief mit lauter Stimme (so daß ich es draußen hören konnte): »Das werdet ihr zu verantworten haben am Tage des Jüngsten Gerichts!« Aber die Inquisitoren verlasen das Geständnis so, wie sie es abgefaßt hatten, und als sie fertig waren, fragten sie ihn, ob er sich künftig in Demut an die Meinung der Kirche und des ganzen Volkes der Stadt halten wolle. Und ich hörte Michele laut ausrufen, er werde sich nur an das halten, was er glaube, nämlich an den »gekreuzigten armen Christus«, und der Papst sei »ein Ketzer, weil er das Gegenteil sagt«. Es folgte eine große Debatte, in welcher die Inquisitoren, darunter viele Franziskaner, ihm klarzumachen versuchten, daß die Heilige Schrift etwas anderes lehre, während er sie beschuldigte, ihre eigene Ordensregel zu verraten, worauf sie erregt versetzten, er wolle doch wohl nicht behaupten, die Schriften besser auslegen zu können als sie, die darin Meister seien. Und Fra Michele, der wirklich sehr hartnäckig war, widersprach ihnen, so daß sie ihm zuzusetzen begannen mit Provokationen wie: »Und jetzt wollen wir, daß du Christum einen Besitzenden nennst und Papst Johannes 146
Der Name der Rose – Dritter Tag
katholisch und heilig.« Michele aber blieb unnachgiebig: »Nein, ketzerisch!« Da sagten sie, sie hätten nie zuvor einen so Verstockten gesehen. Doch in der Menge draußen hörte ich manche sagen, er sei wie Christus vor den Pharisäern, und ich bemerkte, daß viele im Volk an die Heiligkeit des Fra Michele glaubten.
Schließlich führten die Männer des Bischofs ihn in Ketten zurück ins Gefängnis. Und am Abend desselben Tages erfuhr ich, daß viele Fratres, die auf der Seite des Bischofs standen, bei ihm gewesen waren, ihn zu beschimpfen oder zum Widerruf aufzufordern, er aber antwortete darauf wie einer, der seiner Wahrheit gewiß ist. Und er wiederholte vor jedem, daß Christus arm gewesen sei, und das hätten auch Sankt Franziskus und Sankt Dominikus gesagt, und wenn er für die Bekundung dieser richtigen Ansicht mit dem Tode bestraft werden sollte, um so besser, dann werde er bald Gelegenheit haben, die Wahrheit der Schriften zu sehen und die vierundzwanzig Greise der Apokalypse und Jesum Christum und den heiligen Franz und alle ruhmreichen Märtyrer. Und man erzählte mir, er habe gesagt: »Wenn wir mit soviel Eifer die Lehren gewisser Äbte lesen, mit wieviel mehr Eifer und Inbrunst müssen wir uns dann wünschen, in ihrer Mitte zu sein!« Und nach solchen Worten kamen die Inquisitoren mit finsterer Miene aus dem Gefängnis und riefen (und ich hörte sie rufen): »Er hat den Teufel im Leib!«
Am folgenden Tag erfuhr ich, daß das Urteil gefällt worden war, und als ich daraufhin in den Palast des Bischofs eilte, sah ich selber das Dokument und notierte mir Auszüge auf meiner Tafel. Es begann mit den Worten » In nomine Domini amen. Hec est quedam condemnatio corporalis et sententia condemnationis corporalis lata, data et in hiis scriptis sententialiter pronumptiata et promulgata . . .« etcetera etcetera, und es folgte eine genaue Beschreibung der Sünden und Verfehlungen des besagten Michele, die ich hier teilweise wiedergebe, damit der geneigte Leser sich selber ein Urteil bilden kann:
Johannem vocatum fratrem Micchaelem Iacobi, de comitatu Sancti Frediani, hominem male condictionis, et pessime conversationis, vite et fame,
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