Der Name der Rose
diesem Lande noch Einhörner gab.«
»Aber wie können wir dann der antiken Weisheit vertrauen, deren Spuren Ihr immer sucht, wenn sie uns so verzerrt überliefert worden ist, in verlogenen Büchern, die so freizügig mit ihr umspringen?«
»Bücher sind nicht dazu da, daß man ihnen blind vertraut, sondern daß man sie einer Prüfung unterzieht.
Wenn wir ein Buch zur Hand nehmen, dürfen wir uns nicht fragen, was es besagt, sondern was es besagen will – ein Gedanke, der für die alten Kommentatoren der Heiligen Schrift ganz selbstverständlich war. Das Einhorn, wie es in diesen Büchern hier dargestellt wird, enthält eine moralische oder allegorische oder symbolische Wahrheit, die ebenso wahr bleibt wie der Gedanke, daß Keuschheit eine edle Tugend ist. Was aber die buchstäbliche Wahrheit betrifft, über der die drei anderen Wahrheiten sich erheben, so bleibt zu prüfen, aus welcher primären Erfahrung der Buchstabe, also der vorgefundene Wortlaut entstanden ist. Der Buchstabe muß diskutiert werden, auch wenn der höhere Sinn bestehen bleibt. In einem alten Buch steht zum Beispiel geschrieben, Diamanten ließen sich nur mit Ziegenblut schneiden. Doch mein großer Lehrer Roger Bacon hat das für unwahr erklärt, einfach weil er es ausprobiert hatte und gescheitert war. Hätte jedoch die Beziehung zwischen Diamanten und Ziegenblut einen höheren Sinn gehabt, so würde dieser bestehen bleiben.«
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Der Name der Rose – Vierter Tag
»Also kann man höhere Wahrheiten aussprechen, selbst wenn man dem Buchstaben nach lügt«, sagte ich. »Trotzdem finde ich es sehr schade, daß Einhörner, wie sie hier dargestellt sind, nicht existieren oder nicht existiert haben oder nicht eines Tages existieren werden.«
»Wir dürfen der göttlichen Allmacht keinerlei Grenzen setzen, und so Gott wollte, könnten gewiß auch Einhörner existieren. Aber tröste dich, sie existieren in diesen Büchern, die uns wenn nicht von wirklichen, so doch von möglichen Wesen künden.«
»Also muß man beim Lesen von Büchern auf den Glauben verzichten, der doch eine theologale Tugend ist?«
»Immerhin bleiben einem dabei noch zwei andere theologale Tugenden: die Hoffnung, daß eines Tages das Mögliche wirklich werde, und die Barmherzigkeit gegenüber denen, die das Mögliche guten Glaubens für wirklich hielten.«
»Und was nützt Euch das Einhorn, wenn Euer Verstand nicht daran glauben kann?«
»Es nützt mir, wie mir die Spur der Füße des toten Venantius im Schnee genützt hat, als sie mir verriet, daß ihn jemand zum Schweineblutbottich geschleppt haben mußte. Das Einhorn der Bücher ist wie eine Fußspur oder ein Abdruck im Schnee. Wenn ein Abdruck da ist, muß es etwas gegeben haben, das ihn gemacht hat.«
»Aber das anders ist als der Abdruck, wollt Ihr doch sagen.«
»Gewiß. Nicht immer hat ein Abdruck die gleiche Form wie der Körper, der ihn gemacht hat, und nicht immer entsteht er durch das Gewicht eines Körpers. Manchmal reproduziert er nur den Eindruck, den ein Körper in unserem Geist hinterlassen hat, dann ist er der Abdruck einer Idee. Die Idee ist ein Zeichen der Dinge, und das Bild ist ein Zeichen der Idee, also das Zeichen eines Zeichens. Aber aus dem Bild rekonstruiere ich, wenn nicht den Körper, so doch die Idee, die andere von ihm hatten.«
»Und das genügt Euch?«
»Nein, denn die wahre Wissenschaft darf sich nicht mit Ideen begnügen, die eben nur Zeichen sind, sondern muß die Dinge in ihrer einzigartigen Wahrheit zu fassen suchen. Und darum würde ich gern von diesem Abdruck eines Abdruckes immer weiter zurückgehen bis zu jenem leibhaftigen Einhorn, das am Anfang der Kette steht. Ebensogern, wie ich von den vagen Zeichen, die Venantius' Mörder im Schnee hinterlassen hat (und die auf viele Personen hindeuten könnten), zurückgehen würde bis zu jener einen Person, die der wirkliche Mörder ist. Aber das läßt sich nicht immer in kurzer Zeit bewerkstelligen und bedarf oft der Vermittlung durch andere Zeichen.«
»Also kann ich immer nur von etwas sprechen, das von etwas anderem spricht und so weiter, während das letzte Etwas, das wahre, niemals da ist?«
»Vielleicht ist es da, es ist das leibhaftige Einhorn. Und sei unbesorgt, eines Tages wirst du ihm begegnen, wie häßlich und schwarz es dann auch sein mag . . .«
»Einhörner, Löwen, Araber, Mohren!« rief ich plötzlich aufgeregt aus. »Ohne Zweifel ist hier jenes Afrika, von dem neulich die Mönche sprachen!«
»Ohne Zweifel. Und
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