Der Name der Rose
Verlobungsring des heiligen Joseph, einen Zahn von Johannes dem Täufer, den Stab des Moses und eine verschlissene, schon ganz fadenscheinige Spitze vom Hochzeitskleid der Heiligen Jungfrau Maria!
Außerdem gab es noch andere Dinge, die nicht Reliquien waren, aber gleichwohl Zeugnisse von Wundern und wundersamen Wesen aus fernen Ländern, in die Abtei gebracht von Mönchen, die weite Reisen getan bis an die Ränder der Welt: einen Basilisk und eine Hydra, beide ausgestopft, das Horn eines Einhorns, ein Ei, das ein Eremit in einem anderen Ei gefunden hatte, einen Brocken Manna von der Nahrung der Kinder Israel auf ihrer Wanderung durch die Wüste, einen Walfischzahn, eine Kokosnuß, das Schulterbein eines vorsintflutlichen Tieres, den Stoßzahn eines Elefanten, ganz aus Elfenbein, und die Rippe 264
Der Name der Rose – Sechster Tag
eines Delphins. Dazu noch andere Reliquien, die ich nicht erkannte und bei denen die Schreine womöglich kostbarer waren als sie selbst, manche davon schienen uralt zu sein (nach der Machart ihrer Behälter zu urteilen, die aus geschwärztem Silber waren), eine endlose Reihe von Knochensplittern, Stoffresten, Holz-und Metallstücken, Glasscherben. Dazu Flaschen mit dunklen Pulvern darin, von einer erfuhr ich, sie enthalte die verkohlten Überreste der Stadt Sodom, von einer anderen, sie berge Kalk von den Mauern Jerichos. Lauter Dinge also, und seien sie noch so unscheinbar, für die ein Kaiser mehr als ein Lehen gegeben hätte und die für das Kloster, das sie zu seinen Schätzen zählen durfte, nicht nur eine Quelle immensen Prestiges darstellten, sondern auch einen Fundus echten, materiellen Reichtums.
Ich ging immer noch wie betäubt umher, als Nicolas schon längst aufgehört hatte, uns die einzelnen Gegenstände zu erläutern, die im übrigen alle kurze Inschriften trugen; ich bewegte mich frei und planlos zwischen all diesen unschätzbaren Reichtümern, bald die Wunderdinge in hellem Lichte bestaunend, bald im Halbdunkel nach ihnen spähend, wenn Nicolas' Gehilfen mit ihren Fackeln sich in einen anderen Teil der Krypta begeben hatten. Ich war fasziniert von diesen vergilbten Knorpeln, die mir gleichzeitig mystisch und abstoßend, transparent und geheimnisvoll erschienen, von diesen Stoffetzen aus unvordenklichen Zeiten, die zuweilen in einer Phiole zusammengerollt waren wie eine verblaßte Handschrift, von diesen zerbröselten Materien, die sich vermischten mit dem Stoff, der ihnen als Lager diente, heilige Überreste eines einst animalisch (und rational) gewesenen Lebens, die sich nun, eingesperrt in kristallene oder metallene Gehäuse, welche in ihren winzigen Dimensionen die Kühnheit steinerner Dome nachzuahmen versuchten mit ihren Türmen und Dachreitern, selbst in Minerale verwandelt zu haben schienen. So also, dachte ich, warten die Leiber der begrabenen Heiligen auf die Auferstehung des Fleisches? Aus diesen Splittern sollen sich dereinst jene Organismen wieder zusammenfügen, die, im strahlenden Licht der Anschauung Gottes, ihre ganze natürliche Sinnlichkeit wiedergewinnend, alles wahrnehmen werden, selbst noch, wie Pipernus schrieb, die minimas differentias odorum ?
Eine Berührung riß mich aus meinen Meditationen. Es war William, der mir die Hand auf die Schulter legte. »Ich gehe jetzt«, sagte er, »ich muß noch einiges nachlesen im Skriptorium . . .«
»Aber man bekommt doch keine Bücher«, sagte ich. »Benno hat Order . . .«
»Ich muß nur nochmal die Bücher durchsehen, die ich gestern gelesen habe, sie sind alle noch im Skriptorium auf dem Tisch des Venantius. Du kannst hierbleiben, wenn du willst. Diese Krypta ist wirklich ein schönes Nachwort zu den Debatten über die Armut, die du in diesen Tagen miterlebt hast. Jetzt weißt du, warum deine lieben Brüder hier so übereinander herfallen, wenn es um die Abtwürde geht.«
»So glaubt Ihr also, was Nicolas Euch da erzählt hat? Dann ginge es bei den Morden letztlich um einen Investiturstreit?«
»Ich sagte dir schon, ich will im Augenblick noch keine Hypothese äußern. Nicolas hat eine ganze Menge erzählt. Einiges davon hat mich interessiert. Aber jetzt gehe ich, um eine andere Spur zu verfolgen. Oder vielleicht auch dieselbe, nur von einer anderen Seite . . . Und du laß dich nicht zu sehr von diesen Schreinen bezaubern. Stücke vom heiligen Kreuz habe ich in anderen Kirchen schon viele gesehen. Wenn die alle echt wären, wäre unser Erlöser nicht auf zwei überkreuzte Balken genagelt worden,
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