Der Name der Rose
vor seinen Augen pflegte William zu lesen, und er sagte, er könne mit ihnen besser sehen, als es ihm die Natur oder sein fortgeschrittenes Alter gestatte, vor allem wenn das Tageslicht nachzulassen beginne. Allerdings brauche er das Gerät nicht, um in die Ferne zu sehen (im Gegenteil, da waren seine Augen sogar besonders scharf), sondern nur, um etwas aus der Nähe zu betrachten, und tatsächlich konnte er mit diesen Gläsern Manuskripte in winziger Schrift lesen, die zu entziffern selbst mir nicht immer leichtfiel. Wie er mir einmal erklärte, sei es nämlich so, daß bei vielen Menschen, wenn sie die Mitte ihrer Lebenszeit überschritten hätten, die Augen leicht ermüdeten und die Pupillen sich nicht mehr so gut anpassen könnten, selbst wenn ihre Sehkraft immer hervorragend gewesen sei, weshalb leider viele Gelehrte nach ihrem fünfzigsten Lenz, was das Lesen und Schreiben betreffe, so gut wie gestorben seien.
Und das sei natürlich ein schlimmes Unglück für Männer, die noch viele Jahre lang ihr Bestes an Intelligenz und Erkenntnis hätten geben können, und deshalb müsse man Gott dafür loben, daß eines Tages jemand dieses nützliche Instrument erfunden und hergestellt habe – und das zeige wieder einmal, wie gut die Ideen des Roger Bacon gewesen seien, der bekanntlich gelehrt habe, Ziel und Zweck der Weisheit sei nicht zuletzt die Verlängerung des menschlichen Lebens.
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Der Name der Rose – Erster Tag
Die anderen Mönche betrachteten William mit großer Neugier, wagten es aber nicht, ihm Fragen über seine Gläser zu stellen. Und so merkte ich, daß auch ihnen, die sich so eifersüchtig und selbstbewußt dem hehren Umgang mit Büchern verschrieben hatten, dieses wunderbare Gerät nicht bekannt war. Und es erfüllte mich mit Stolz, einen Meister zu haben, der etwas besaß, was Leuten, die in der ganzen Welt berühmt waren für ihr Wissen, solchen Eindruck machte.
Mit diesem Gerät auf der Nase beugte sich William nun also über den Codex. Ich tat es ihm nach, und wir entdeckten die Namen zahlloser Bücher, nie gehörte neben hochberühmten, die sich in dieser Bibliothek befanden.
» De pentagono Salomonis; Ars loquendi et intelligendi in lingua hebraica; De rebus metallicis von Rüdiger von Herford; Algebra von Al Kuwarizmi, ins Lateinische übertragen von Robertus Anglicus; die Punica von Silius Italicus; die Gesta francorum; De laudibus sanctae crucis von Hrabanus Maurus; und Flavii Claudii Giordani de aetate mundi et hominis reservatis singulis litteris per singulos libros ab A usque ad Z «, las mein kluger Meister.
»Glänzende Werke. Aber in welcher Reihenfolge sind sie hier aufgeführt?« Und er zitierte einen Text, den ich nicht kannte, der aber sicher dem Bibliothekar geläufig war: »› Habeat Librarius et registrum omnium librorum ordinatum secundum facultates et auctores, reponatque eos separatim et ordinate cum signaturis per scripturam applicatis. ‹ Wie wißt Ihr, wo ein Buch steht?«
Malachias zeigte auf die kurzen Bemerkungen hinter jedem Titel, und ich las: iii, IV gradus, V in prima graecorum; ii, V gradus, VII in tertia anglorum und so weiter. Ich begriff, daß die erste Zahl offenbar für die Position des Buches auf dem Bord oder gradus stand, das seinerseits durch die zweite Zahl bezeichnet wurde, während die dritte den Schrank angab, ergänzt um Hinweise auf einen Raum oder Flur in der Bibliothek, und ich wagte die Bitte um genauere Erklärung dieser ergänzenden Distinctiones. Malachias sah mich streng an. »Vielleicht wißt Ihr nicht oder habt vergessen, daß der Zugang zur Bibliothek nur dem Bibliothekar gestattet ist. Es genügt also, wenn er allein diese Angaben zu entziffern vermag.«
»Aber sagt mir, nach welcher Reihenfolge sind die Bücher hier aufgeführt?« fragte William noch einmal.
»Nach Sachgebieten doch offenbar nicht.« Eine mögliche Reihenfolge nach Autoren gemäß der traditionellen Buchstabenfolge im Alphabet erwähnte er gar nicht, da diese sinnreiche Anordnung erst vor wenigen Jahren in manchen Bibliotheken eingeführt worden ist und damals noch kaum gebräuchlich war.
»Die Ursprünge dieser Bibliothek liegen in der Tiefe der Zeiten«, sagte Malachias würdevoll, »und so sind die Bücher hier aufgeführt nach der Reihenfolge ihres Erwerbs, ob durch Kauf oder Schenkung, das heißt nach dem Zeitpunkt ihres Eingangs in unsere Mauern.«
»Schwer zu finden«, bemerkte William.
»Es genügt, daß der Bibliothekar sie kennt und bei jedem Buch
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