Der Name der Rose
Lineale, um die Zeilenlinien zu ziehen. Neben jedem Schreiber oder auch am oberen Ende der schrägen Schreibfläche eines jeden Tisches stand ein Lesepult, auf dem der zu kopierende Codex ruhte, festgehalten durch eine bewegliche Maske, welche die gerade abzuschreibende Zeile einfaßte. Manche hatten auch 50
Der Name der Rose – Erster Tag
goldene oder andersfarbige Tinten. Andere Mönche sah ich nur lesen und sich Notizen machen in Hefte oder auf kleine Täfelchen.
Allerdings hatte ich keine Zeit, ihre Arbeit genauer zu beobachten, denn schon eilte der Bibliothekar herbei, den wir bereits als Malachias von Hildesheim kannten. Er gab sich Mühe, seinem Antlitz einen Ausdruck des Willkommens zu geben, aber das änderte nichts daran, daß ich angesichts dieser einzigartigen Physiognomie unwillkürlich erschrak. Seine Gestalt war hoch, und seine Glieder wirkten trotz ihrer extremen Magerkeit groß und grobknochig, und wie er da in seiner schwarzen Kutte mit langen Schritten rasch auf uns zukam, hatte er etwas Beunruhigendes, ja Unheimliches. Die Kapuze, die er noch nicht abgestreift hatte, da er gerade von draußen kam, warf auf sein bleiches Gesicht einen Schatten, der seinen großen melancholischen Augen etwas Schmerzliches gab. Tiefe Furchen in seinen Zügen kündeten von vergangenen, einstmals offenbar wilden und nun vom Willen gebändigten Leidenschaften. Wehmut und Ernst beherrschten sein Antlitz, und seine Augen waren so stechend, daß sie mit einem einzigen Blick tief ins Herz seines Gegenübers einzudringen und seine geheimsten Gedanken zu lesen vermochten, weshalb man ihr forschendes Starren kaum ertragen konnte und versucht war, ihm auszuweichen.
Nachdem der Bibliothekar uns begrüßt hatte, führte er uns durch den Saal und stellte uns zahlreiche Mönche vor. Bei jedem von ihnen nannte er nicht nur den Namen, sondern auch die Art ihrer Tätigkeit, und bei allen bewunderte ich die Hingabe an ihre Wissenschaft und an das Studium der Worte Gottes. So lernte ich Venantius von Salvemec kennen, einen Übersetzer aus dem Griechischen und Arabischen sowie großen Verehrer des Aristoteles, des gewiß größten Gelehrten aller Zeiten. Ferner Benno von Uppsala, einen jungen skandinavischen Mönch, der sich mit Rhetorik und Grammatik beschäftigte, Berengar von Arundel, den Adlatus des Bibliothekars, Aymarus von Alessandria, der Bücher kopierte, die der Bibliothek nur leihweise für ein paar Monate überlassen waren, und schließlich eine Reihe von Miniatoren aus verschiedenen Ländern, Patrick von Clonmacnois, Rhaban von Toledo, Magnus von Iona, Waldo von Herford . . .
Die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden, und nichts ist gewiß erfreulicher als eine Liste, Werkzeug wunderbarer Hypotyposen. Doch ich muß zum Inhalt unserer Gespräche kommen, denn daraus ergaben sich zahlreiche nützliche Hinweise zum Verständnis der spürbaren Unruhe, die unter den Mönchen herrschte, sowie des irgendwie unausgesprochenen Etwas, das ihre Reden belastete.
William begann das Gespräch mit Malachias, indem er die Schönheit und Zweckmäßigkeit des
Skriptoriums lobte und sich erkundigte, wie hier die Arbeit vonstatten gehe, denn er habe, so fügte er wohlüberlegt hinzu, allerorten von dieser trefflichen Bibliothek gehört und würde gern viele der Bücher genauer in Augenschein nehmen. Malachias erklärte ihm, wie es bereits der Abt getan hatte, daß der Mönch, der ein bestimmtes Buch haben wolle, den Bibliothekar darum bitten müsse, und dieser hole es dann aus der Bibliothek im zweiten Obergeschoß, wenn der Wunsch gerechtfertigt sei und fromm. Auf Williams Frage, woher man den Titel des Buches erfahren könne, zeigte Malachias ihm einen voluminösen, mit einem goldenen Kettchen an seinem Tisch befestigten Codex, dessen Seiten von oben bis unten eng mit Listen bedeckt waren.
William versenkte die Hand in seine Kutte, wo sie vor der Brust einen Beutel bildete, und förderte einen Gegenstand zutage, den ich bereits früher zuweilen in seinen Händen oder auf seiner Nase gesehen hatte: eine kleine zweizackige Gabel, die so geformt war, daß sie auf der Nase eines Mannes sitzen konnte (zumal auf einer so kühn gebogenen Adlernase wie der meines Meisters), wie ein Reiter auf seinem Pferd sitzt oder ein Vogel auf seiner Stange. Rechts und links an den beiden Zacken der Gabel befanden sich, in genauer Entsprechung zu den Augen, zwei ovale Metallringe, die zwei dicke mandelförmige Gläser umspannten. Mit diesen Gläsern
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