Der Name der Rose
formten.
Neben dem Psalter lag, gleichfalls offenbar erst vor kurzem fertiggestellt, ein zierliches goldenes Büchlein, so unglaublich klein, daß man es in der Handfläche hätte halten können. Die Miniaturen an den Seiten der winzigen Schrift waren auf den ersten Blick kaum zu erkennen und verlangten Betrachtung aus nächster Nähe, um ihre ganze Schönheit zu offenbaren (und staunend fragte man sich, mit welchem übermenschlichen Werkzeug der Künstler sie gemalt haben mochte, um auf so engem Raum so lebendige Wirkungen zu erzielen). Von oben bis unten waren die Ränder bedeckt mit winzigen Figuren, die sich, gleichsam wie in natürlicher Expansion, aus den Enden und Abschlußbögen der kunstvoll geformten Lettern ergaben: fischschwänzige Sirenen, Chimären, fliehende Hirsche, armlose menschliche Torsi, die Würmern gleich aus den Enden der Verse wuchsen. An einer Stelle sah ich, gleichsam als Fortsetzung und Kommentar eines dreifach über drei Zeilen wiederholten Sanctus, Sanctus, Sanctus , drei Tierleiber mit Menschenköpfen, von denen zwei sich beugten, der eine nach oben, der andere nach unten, um sich in einem Kuß zu vereinen, den als schamlos zu definieren man nicht gezögert hätte, wäre man nicht überzeugt gewesen, daß die Existenz dieser Darstellung an diesem Ort ohne Zweifel gerechtfertigt war durch eine tiefe, wenn auch nicht ohne weiteres erkennbare spirituelle Bedeutung.
Ich folgte den Bildern in einer Mischung aus stummer Bewunderung und Ergötzen, denn unwillkürlich reizten mich diese Figuren zum Lachen, obwohl sie heilige Texte kommentierten. Auch William betrachtete sie mit einem Lächeln und sagte heiter: »Babewyn nennt man sie auf meinen Inseln.«
»Babouins heißen sie in Gallien«, nickte Malachias, »und in der Tat hat Adelmus seine Kunst in Eurer Heimat erlernt, obwohl er dann später auch in Paris studierte. Paviane, Fratzengesichter, afrikanische Affen
– Figuren einer verkehrten Welt, in welcher die Häuser sich auf Nadelspitzen erheben und die Erde über dem Himmel ist.«
Mir kamen einige Verse in den Sinn, die ich zu Hause in meinem heimatlichen Idiom gehört hatte, und ich konnte mich nicht enthalten, sie zu zitieren:
Aller wunder si geswigen,
das erde himel hât überstigen,
daz sult ir vür ein wunder wigen.
Malachias stimmte ein und fuhr fort:
Erd ob un himel unter,
das sult ir hân besunder
vür aller wunder ein wunder.
53
Der Name der Rose – Erster Tag
»Bravo, Adson«, lobte der Bibliothekar, »in der Tat sprechen diese Bilder von jener Region, in die man auf dem Rücken einer Blaugans gelangt, um dort Sperber zu finden, die Fische fangen in einem Bach, und Bären, die Falken am Himmel jagen, und Krebse, die mit den Tauben fliegen, und drei Riesen, die gefangen in einer Falle sitzen und von einem Hahn gebissen werden.«
Ein feines Lächeln erhellte seine Züge, worauf die anderen Mönche, die unserem Gespräch mit einer gewissen Scheu gefolgt waren, wie erlöst in ein allgemeines Gelächter ausbrachen, als hätten sie nur die Zustimmung des Bibliothekars abgewartet. Dieser freilich verdüsterte sich sofort wieder, doch die anderen lachten nun weiter im Chor, lobten die Kunst des armen Adelmus und zeigten einander die
unwahrscheinlichsten Gestalten. Und während sie alle laut durcheinanderlachten, ertönte plötzlich in unserem Rücken eine sehr ernste und strenge Stimme:
» Verba vana aut risui apta non loqui! «
Wir drehten uns um. Der da gesprochen hatte, war ein greiser Mönch, gebeugt von der Last seiner Jahre und weiß wie der Schnee, nicht nur an Kopf und Händen, sondern auch im Gesicht und sogar in den Augen.
Offensichtlich ein Blinder. Seine Stimme hatte majestätisch geklungen, und seine Glieder schienen mir trotz seines hohen Alters noch kraftvoll zu sein. Er fixierte uns streng, als könnte er uns sehen, und auch in den folgenden Tagen sah ich ihn stets sich bewegen und sprechen, als wäre er noch im Besitz seines Augenlichtes. Doch der Ton seiner Stimme war der eines Mannes, der nur das innere Auge besitzt, will sagen die Gabe der Prophetie.
»Der ehrwürdige und weise Mönch, der da vor Euch steht«, sagte Malachias zu William und wies auf den Neuankömmling, »ist Bruder Jorge von Burgos. Älter als jeder andere in diesem Kloster, ausgenommen Alinardus von Grottaferrata, ist er es, dem hier die meisten Brüder ihre Sündenlast anvertrauen im Geheimnis der Beichte.« Und zu dem Greis gewandt sagte er: »Vor Euch steht Bruder William
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