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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Wir lasen die Buchstabenfolge rückwärts und fanden das Wort LEONES.
    »Leones, Süden … auf unserer Weltkarte sind wir in Afrika, hic sunt leones 88 «, erklärte William. »Das erklärt auch, warum wir in diesen Räumen so viele Texte von Ungläubigen gesehen haben.«
    »Ja, und hier sind noch mehr davon«, sagte ich, die Schränke durchmusternd. »Zum Beispiel Canone von Avicenna … und hier dieser herrliche Codex in einer Kalligraphie, die ich nicht kenne …«
    »Nach den Dekorationen zu urteilen, müßte es ein Koran sein, aber leider kann ich kein Arabisch.«
    »Ein Koran, die Bibel der Ungläubigen? Ein perverses Buch …«
    »Ein Buch mit einer anderen Wahrheit als der unseren … Doch nun verstehst du vielleicht, warum die Bibliothekare es hierhin gestellt haben, wo die Löwen und Monster sind. Darum haben wir hier auch neulich das Liber monstrorum gefunden und das Buch mit dem Einhorn. In dieser Zone stehen die Werke, die den Erbauern der Bibliothek als die Bücher der Lüge galten. Was haben wir dort oben?«
    »Lateinisches, aber aus dem Arabischen. Ayyub al Ruhawi, ein Traktat über die Tollwut … Und hier ein Buch über die Schätze der Erde … Und hier steht auch die Abhandlung De aspectibus von Alhazen …«
    »Siehst du, sie haben zwischen die Monster und Lügen auch wissenschaftliche Werke gestellt, von denen die Christen viel lernen könnten. Aber so dachte man eben damals, zur Zeit der Gründung dieser Bibliothek …«
    »Aber warum haben sie zwischen die Lügenbücher auch den Band mit dem Einhorn gestellt?«
    »Die Gründer der Bibliothek hatten offenbar seltsame Vorstellungen: Sie meinten wohl, daß jenes Buch, das von phantastischen Wesen in fernen Ländern handelt, zu den Lügen gehört, die von den Ungläubigen verbreitet werden …«
    »Ja, ist denn das Einhorn eine Lüge? Es ist doch ein äußerst graziles Tier von hohem Symbolwert! Ein Sinnbild Christi sowie der Keuschheit! Man kann es nur fangen, indem man eine Jungfrau in den Wald schickt, deren keuscher Geruch es anlockt, so daß es kommt und seinen Kopf in ihren Schoß legt und sich willig den Netzen der Jäger darbietet.«
    »So heißt es, mein lieber Adson. Aber viele neigen auch zu der Ansicht, daß es eine Erfindung heidnischer Fabeldichter ist.«
    »Wie schade!« rief ich enttäuscht. »Ich wäre gern einmal beim Spazierengehen im Walde einem Einhorn begegnet! Wozu geht man sonst im Walde spazieren?«
    »Wer sagt denn, daß es nicht existiert? Aber vielleicht ist es ganz anders, als es in diesen Büchern dargestellt wird. Ein venezianischer Reisender fuhr in den fernen Osten, in Länder nahe besagtem Föns Paradisi, von welchem die Weltkarten künden, und sah dort Einhörner. Aber er fand sie plump und gemein und häßlich und schwarz. Ich glaube, daß er wirkliche Tiere mit einem Horn auf dem Kopf gesehen hat. Es waren vermutlich die gleichen, von denen uns die Meister der antiken Weisheit (die niemals vollkommen irrten, da Gott ihnen Dinge zu sehen gewährte, die uns verborgen geblieben sind) eine erste getreue Beschreibung gegeben haben. Später ist diese Beschreibung dann, von Auctoritas zu Auctoritas weitergereicht, durch sukzessive Zutaten der Phantasie verändert worden, so daß die Einhörner schließlich zu edlen und anmutigen, weißen und sanften Tieren wurden. Darum merke: Geh niemals mit einer Jungfrau in einen Wald, in dem womöglich ein Einhorn lebt, denn das Tier könnte dem unseres venezianischen Augenzeugen ähnlicher sein als dem dieses Buches!«
    »Aber wie kam es, daß Gott den Meistern der antiken Weisheit die Offenbarung der wahren Natur des Einhorns gewährte?«
    »Nicht die Offenbarung, sondern die Erfahrung. Sie hatten das Glück, in einem Lande geboren zu sein, wo Einhörner lebten, beziehungsweise zu einer Zeit, da es auch hier in diesem Lande noch Einhörner gab.«
    »Aber wie können wir dann der antiken Weisheit vertrauen, deren Spuren Ihr immer sucht, wenn sie uns so verzerrt überliefert worden ist, in verlogenen Büchern, die so freizügig mit ihr umspringen?«
    »Bücher sind nicht dazu da, daß man ihnen blind vertraut, sondern daß man sie einer Prüfung unterzieht. Wenn wir ein Buch zur Hand nehmen, dürfen wir uns nicht fragen, was es besagt, sondern was es besagen will – ein Gedanke, der für die alten Kommentatoren der Heiligen Schrift ganz selbstverständlich war. Das Einhorn, wie es in diesen Büchern hier dargestellt wird, enthält eine moralische oder allegorische oder

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