Der Name der Rose
Ländern. Schau doch mal auf deinen Plan, wo müßten wir uns jetzt befinden?«
»Im Westturm. Ich habe auch die Inschriften abgeschrieben, laßt mich mal sehen … Also, wenn man aus dem fensterlosen Raum kommt, gelangt man zuerst in den siebeneckigen Innenraum, und von da aus gibt es nur einen Durchgang zu einem der äußeren Turmzimmer, und dort ist der Anfangsbuchstabe ein rotes H.
Dann geht man weiter von Zimmer zu Zimmer rings um den Turm herum, bis man wieder zu dem fensterlosen Raum im Innern gelangt, und die Buchstabenfolge ist … ja, Ihr habt recht: HIBERNI!«
»HIBERNIA, wenn du aus dem letzten Raum wieder in das innere Siebeneck gehst, das genau wie die anderen drei Siebenecke das A von Apokalypsis hat. Ja, und darum stehen hier auch die Werke aus dem Ultima Thule und die der Grammatiker und Rhetoren, denn die Gründer der Bibliothek waren der Ansicht, daß ein Grammatiker bei den Grammatikern aus Hibernia stehen müsse, auch wenn er aus Toulouse war. Das ist in der Tat ein Kriterium. Siehst du, wir fangen an, etwas zu begreifen …«
»Aber vorhin in den Räumen des Ostturms, durch den wir hereingekommen sind, lasen wir FONS … Was bedeutet das?«
»Lies deinen Plan richtig. Lies weiter, welche Buchstaben hatten die Räume, in die wir als nächste gelangten?«
»FONS ADAEU …«
»Nein, Fons Adae muß es heißen. Das U war im zweiten fensterlosen Raum, ich erinnere mich, wahrscheinlich gehörte es zu einer anderen Buchstabenfolge. Und was fanden wir im Fons Adae, das heißt im irdischen Paradies (erinnerst du dich, dort war auch der Raum mit dem kleinen Altar, der genau nach Osten ging)?«
»Jede Menge Bibeln und Bibelkommentare, lauter heilige Schriften.«
»Siehst du, das Wort Gottes in Entsprechung zum irdischen Paradies, das bekanntlich irgendwo weit im Osten liegt. Und hier im Westen Hibernia.«
»Dann wäre die Bibliothek wie eine Weltkarte angelegt?«
»Vermutlich. Und die Bücher sind nach den Ländern ihrer Herkunft geordnet, das heißt nach den Orten, aus denen ihre Autoren stammen, oder aber, wie in diesem Falle, aus denen sie hätten stammen müssen. Die Bibliothekare haben sich wohl gesagt, daß Virgilius der Grammatiker nur aus Versehen in Toulouse geboren ist und eigentlich auf die Inseln am Westrand der Welt gehört. Sie haben die Fehler der Natur korrigiert.«
Wir gingen weiter und gelangten in eine Flucht von Räumen voller prächtiger Apokalypsen. Einer davon war jener duftgeschwängerte Raum, in welchem ich beim ersten Mal meine Visionen gehabt hatte. Als wir das Licht von weitem erblickten, hielt William sich die Nase zu und eilte hin, um es zu löschen, indem er kräftig in die glimmende Asche spuckte. Vorsichtshalber durchquerten wir jenen Raum mit raschen Schritten, doch ich erinnere mich, dabei auf dem Tisch erneut die wunderschöne Apokalypse mit der mulier amicta sole und dem Drachen gesehen zu haben. Schließlich gelangten wir in einen kleinen Raum, dessen Inschrift mit einem roten Y begann, und rekonstruierten die Abfolge der zuletzt durchschrittenen Räume. Ihre Initialen ergaben, rückwärts gelesen, das Wort YSPANIA, aber das letzte A war dasselbe, mit dem HIBERNIA endete – ein Zeichen, wie William meinte, daß es auch Räume gab, in denen Werke vermischten Charakters aufbewahrt wurden.
In jedem Falle entdeckten wir in der Zone namens YSPANIA auffällig viele Codizes der Offenbarung Johannis, alle von erlesener Machart, die William als spanische Buchkunst erkannte. Uns schien geradezu, daß diese Bibliothek vielleicht die größte Sammlung von Abschriften jenes heiligen Buches besaß, die es in der ganzen Christenheit geben mochte, dazu eine Unzahl von Kommentaren; voluminöse Folianten waren allein dem Apokalypsenkommentar des Beatus von Liebana gewidmet. Der Text war jedesmal mehr oder minder derselbe, aber wir fanden eine phantastische Vielfalt von Variationen in den Bildern, und William erkannte die Signaturen einiger Buchmaler, die, wie er mir sagte, zu den größten des Reiches Asturien zählten: Magius, Facundus und andere mehr.
Unter solchen und ähnlichen Funden gelangten wir schließlich zum Südturm, in dessen Nähe wir schon bei unserem ersten Besuch in der Bibliothek gekommen waren. Der Raum S von YSPANIA – ein fensterloser – führte uns weiter in einen Raum E, und fortschreitend durch die Außenräume des Turmes kamen wir in einen letzten, der keinen weiteren Durchgang aufwies und als Anfangsbuchstaben seiner Inschrift ein rotes L hatte.
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