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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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geboren, war ich kein Neuling in diesem Element, unter anderen Umständen hätte es mich sogar mit einer gewissen Zärtlichkeit an das flache Land und die Burg meiner Kindheit erinnert. An jenem Morgen indessen schien mir die Verfassung der Luft in schmerzlicher Weise meiner Gemütsverfassung zu ähneln, und die Beklommenheit, die ich beim Erwachen verspürt hatte, wurde größer, je näher wir dem Kapitelsaal kamen.
    Wenige Schritte vor dem Gebäude erblickte ich Bernard Gui, der sich gerade von einer Person verabschiedete, die ich nicht gleich erkannte. Dann sah ich, daß es Malachias war. Er schaute verstohlen um sich, wie einer, der Böses im Schilde fuhrt und nicht ertappt werden will. Aber ich habe ja schon gesagt, daß dieser Mann immer so aussah, als hätte er irgendein dunkles, uneingestandenes Geheimnis zu verbergen.
    Er ging davon, ohne mich erkannt zu haben. Ich beobachtete voller Neugier den Inquisitor und sah, daß er Schriftstücke in der Hand hielt, die er mit raschem Blick überflog; vielleicht hatte er sie von Malachias erhalten. Auf der Schwelle des Kapitelsaals winkte er mit einer knappen Geste den Hauptmann der Bogenschützen herbei, der in der Nähe gestanden hatte, und raunte ihm ein paar Worte zu. Dann ging er hinein, und ich folgte ihm.
    Es war das erste Mal, daß ich dieses Gebäude betrat, dessen Äußeres eher bescheiden und nüchtern wirkte; ein Bau aus neuerer Zeit, der mich nicht sonderlich interessiert hatte, doch nun erkannte ich, daß er auf den Resten einer sehr alten, womöglich durch einen Brand zerstörten Abteikirche errichtet worden war.
    Denn durch ein hohes Portal im modernen Stil, mit schmucklosem Spitzbogen und gekrönt von einer Rosette, gelangte ich in eine Vorhalle, die sich auf den Grundmauern eines alten Narthex erhob, und stand überrascht vor einem zweiten Portal, das in der alten Manier gestaltet war, überwölbt von einem Rundbogen, der ein halbmondförmiges Tympanon voller wunderbarer Figuren umschloß. Es handelte sich ohne Zweifel um das Portal der alten Kirche.
    Die Skulpturen in diesem Tympanon waren ebenso schön, aber nicht so beunruhigend wie die am Portal der neuen Kirche. Auch hier beherrschte ein thronender Christus die ganze Komposition, doch rechts und links neben ihm standen und saßen, in verschiedenen Stellungen und verschiedene Gegenstände haltend, die zwölf Apostel, die von ihm den Auftrag erhalten hatten, in die Welt zu gehen und den Menschen das Evangelium zu bringen. Über dem Haupt des Erlösers, angeordnet in einem Bogen, der sich in zwölf Paneele teilte, sowie unter seinen Füßen in einer ununterbrochenen Prozession von Figuren, waren die Völker der Welt dargestellt, denen die Frohe Botschaft gebracht werden sollte, und ich erkannte an ihren Kostümen die Juden, die Kappadozier, die Araber und die Inder, die Phrygier, die Byzantiner, die Armenier und die Skythen sowie die Römer. Doch vermischt mit ihnen sah ich, aufscheinend in dreißig Rundbildern, die sich über dem Bogen der zwölf Paneele zu einem zweiten Bogen fügten, die Bewohner der unbekannten Welten, von denen zuweilen der Physiologus und die Berichte der Reisenden sprechen. Viele von ihnen waren mir gänzlich unbekannt, andere erkannte ich: zum Beispiel die Wesen mit sechs Fingern an jeder Hand, die Faune, die aus den Würmern zwischen Borke und Schaft der Bäume wachsen, die schuppengeschwänzten Sirenen, die mit ihrem verführerischen Gesang die Seefahrer ins Verderben locken, die Aithiopen, deren Leiber ganz schwarz sind und die sich zum Schutz vor der Sonnenglut Höhlen unter der Erde graben, die Onozentauren, die bis zum Nabel Menschen sind und darunter Esel, die Zyklopen, die nur ein Auge haben, das ihnen talergroß auf der Stirn sitzt, auch Skylla mit dem Kopf und der Brust eines Weibes, dem Leib einer Wölfin und dem Schuppenschwanz eines Delphins, dazu die behaarten Menschen aus Indien, die in den Sümpfen wohnen und auf dem Fluß Epigmarides, die Kynozephalen, die sich bei jedem Wort unterbrechen und bellen, die Scinopoden, die ungemein schnell auf ihrem einen Bein rennen können und die, wenn ihnen die Sonne zu heiß brennt, sich auf den Rücken legen und ihren großen Entenfuß über sich ausbreiten wie einen Schirm, ferner die mundlosen Astomaten aus Griechenland, die durch die Nase atmen und nur von Gerüchen leben, die bärtigen Weiber aus Armenien, die Epistygen, auch Blemmyen genannt, die den Mund am Bauch haben und die Augen auf den Schultern, weil sie

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