Der Name der Rose
kopflos geboren werden, dazu die Pygmäen, die Riesenweiber vom Roten Meer, zwölf Fuß hoch und Haare bis zu den Fersen, am Hintern einen Kuhschwanz und Hufe wie ein Kamel, auch die Leute mit den verkehrten Füßen, deren Zehen nach hinten zeigen, so daß, wer ihre Spuren verfolgt, immer dort anlangt, wo sie herkommen, und nie dort, wo sie hingehen, schließlich die Menschen mit den drei Köpfen und die mit den Glutaugen, die im Dunkeln wie Lampen leuchten, und die Monster der Circe-Insel, Menschenleiber mit den verschiedensten Tierköpfen …
All diese Wunderwesen und andere mehr erblickte ich auf dem Tympanon. Doch keines von ihnen rief Beklemmung hervor, denn sie standen hier nicht als Zeichen für die Übel der Welt oder für die Qualen der Hölle, sondern als Zeugnis dafür, daß die Frohe Botschaft den ganzen bekannten Erdkreis erreicht hatte und sich bereits auf die Terra incognita auszubreiten begann, weshalb das Portal als frohe Verheißung von Eintracht, vollendeter Einheit im Evangelium Christi und strahlender Oekumene erschien.
Ein gutes Vorzeichen, sagte ich mir, für das Treffen, das hinter diesem Portal nun stattfinden sollte und bei dem sich Männer, die durch entgegengesetzte Auslegungen des Evangeliums einander zu Feinden geworden waren, vielleicht heute glücklich wiederversöhnen und ihre Querelen beilegen würden. Wie kleinmütig war ich gewesen, mich über mein privates Unglück zu grämen, während Ereignisse von so großer Bedeutung für die Geschichte der Christenheit vor der Tür standen! Ich verglich die Geringfügigkeit meiner Kümmernisse mit der grandiosen Friedens- und Glücksverheißung, die da in Stein gehauen aus dem Tympanon sprach, raffte mich auf, bat den Herrn um Vergebung für meinen Wankelmut und trat voller Zuversicht über die Schwelle.
Beide Legationen waren bereits vollzählig versammelt. Sie saßen einander gegenüber auf einer Reihe von Stühlen, die zu zwei Halbkreisen aufgestellt worden waren, an den Stirnseiten jeweils durch einen Tisch getrennt, an welchem hüben der Abt und drüben Kardinal Bertrand saßen.
William, für den ich Notizen machen sollte, setzte mich zu den Minoriten, wo Michael mit den Seinen und die Franziskaner vom päpstlichen Hofe versammelt waren; denn das Treffen sollte nicht wie ein Duell zwischen Italienern und Franzosen erscheinen, sondern wie ein Disput zwischen Anhängern der franziskanischen Regel und ihren Kritikern, alle vereint in gut katholischer Treue zum Heiligen Stuhl.
Zu Michaels Gruppe gehörten die Brüder Arnold von Aquitanien, Hugo von Novocastrum und William Alnwick, die auch schon am Kapitel zu Perugia teilgenommen hatten, sowie der Bischof von Kaffa und Berengar Talloni, Bonagratia von Bergamo und andere Minoriten aus Avignon. Auf der Gegenseite saßen Lorenz Decoalcon, seines Zeichens Bakkalaureus zu Avignon, der Bischof von Padua und Meister Jean d'Anneaux, Doktor der Theologie zu Paris. Ferner, schweigend zur Rechten von Bernard Gui, der Dominikaner Jean de Baune. Er sei, erklärte mir William, Vorjahren Inquisitor in Narbonne gewesen, wo er viele Prozesse gegen Beginen und Albigenser geführt habe; als er einmal jedoch eine Aussage über die Armut Christi als Häresie abstempeln wollte, habe sich Berengar Talloni, seines Zeichens Lektor im Minoritenkonvent jener Stadt, gegen ihn erhoben und an den Papst appelliert. Johannes, der damals in dieser Sache noch unentschieden gewesen sei, habe die beiden zu einem Disput nach Avignon geladen, wobei man aber zu keiner Konklusion gelangt sei. Bis dann wenig später die Franziskaner in Perugia ihre bekannte Entscheidung fällten … Schließlich gehörten noch ein paar andere zur Avignonesischen Legation, darunter der Bischof von Arborea.
Die Sitzung wurde vom Abt eröffnet, der es für angebracht hielt, die jüngsten Ereignisse zu rekapitulieren. Anno Domini 1322, so erinnerte er die hohe Versammlung, hatte bekanntlich das Generalkapitel der Minderen Brüder, in Perugia zusammengetreten unter der Führung Michaels von Cesena, nach sorgfältiger und reiflicher Überlegung erklärt, daß Christus, um ein Beispiel vollkommenen Lebens zu geben, und seine Jünger, um seinem Beispiel zu folgen, niemals irgendein Gut besessen hätten, weder als Eigentümer noch als Herren, und daß diese Wahrheit gut katholischer Glaubensstoff sei, wie man aus verschiedenen Stellen der kanonischen Schriften entnehmen könne. Weshalb es verdienstvoll und heilig sei, auf jedes Eigentum zu
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