Der Name der Rose
regt?«
Jorge zögerte einen Moment. »Lebt er noch?« fragte er dann. »Ich dachte, er sei schon erstickt.«
»Bevor wir unser Gespräch beginnen«, sagte William, »will ich ihn retten. Du kannst von hier aus öffnen.«
»Nein«, erwiderte Jorge mit müder Stimme, »ich kann es nicht mehr. Der Mechanismus wird von unten bedient, man drückt auf den Grabstein in der Mauer, worauf sich hier oben ein Hebel löst, der eine Tür öffnet, drüben hinter dem Schrank.« Er deutete hinter sich. »Du siehst dort neben dem Schrank ein Rad mit zwei Gegengewichten, das den Mechanismus von hier aus steuert. Als ich vorhin hörte, wie sich das Rad bewegte, wußte ich, daß der Abt unten eingedrungen war. Ich gab dem Seil, an dem die Gewichte hängen, einen kräftigen Ruck, so daß es zerriß. Nun ist der Geheimgang von beiden Seiten versperrt. Du könntest die Apparatur nicht wieder zusammenfügen. Der Abt ist ein toter Mann.«
»Warum hast du ihn getötet?«
»Heute nachmittag, als er mich rufen ließ, sagte er mir, er habe dank deiner Enthüllungen alles durchschaut. Er wisse nur noch nicht, was ich zu schützen versuchte – er hat nie richtig begriffen, was für Schätze diese Bibliothek enthält und welchen Zwecken sie dient. Er wollte, daß ich ihm erkläre, was er noch nicht wußte. Er verlangte die Öffnung des Finis Africae. Die Italiener hatten ihn aufgefordert, dem von mir und meinen Vorgängern hier genährten Geheimnis, wie sie es nannten, ein Ende zu setzen. Sie beben vor Gier nach Novitäten …«
»Und da mußtest du dem Abt versprechen, hierherzugehen und deinem Leben ein Ende zu setzen, wie du es mit dem Leben der anderen getan hast, damit die Ehre der Abtei gewahrt bleibe und niemand etwas erfahre, nicht wahr? Du sagtest ihm, wie er hierherkommen könnte, um es später zu kontrollieren. Doch statt hier drin deinem Leben ein Ende zu setzen, hast du auf ihn gewartet, um ihn zu töten. Dachtest du nicht, daß er durch den Spiegel hereinkommen könnte?«
»Nein, Abbo war zu klein von Statur, er hätte die Inschrift nicht ohne fremde Hilfe erreichen können. Ich nannte ihm die Geheimtreppe, die ich als einziger in der Abtei noch kannte. Sie war es, die ich seit Jahren benutzt habe, sie ist bequemer im Dunkeln. Man braucht nur von der Seitenkapelle den Knochen der Toten zu folgen bis ans Ende …«
»So hast du ihn also herbestellt, um ihn zu töten.«
»Ich konnte mich nicht mehr auf ihn verlassen. Er hatte Angst. Sein Ruhm beruhte darauf, daß er einst in Fossanova einen Körper erfolgreich eine Wendeltreppe hinuntergeschafft hatte. Nun ist er tot, weil er seinen eigenen Körper nicht mehr hinaufzuschaffen vermochte.«
»Du hast ihn seit vierzig Jahren benutzt. Als du damals spürtest, daß dein Augenlicht nachließ und du die Bibliothek nicht länger würdest beherrschen können, hast du planvoll gehandelt. Du hast einen Mann deines Vertrauens zum Abt wählen lassen, du hast dafür gesorgt, daß dein Nachfolger in der Bibliothek erst Robert von Bobbio wurde, den du nach Belieben instruieren konntest, und dann Malachias, der vollkommen von dir abhängig war und keinen Schritt tun konnte, ohne dich vorher zu fragen. Vierzig Jahre lang bist du der heimliche Herrscher dieser Abtei gewesen. Das war es, was die Gruppe der Italiener begriffen hatte, das war es, was Alinardus immerfort wiederholte, doch niemand hörte auf ihn, weil er als schwachsinnig galt, nicht wahr? Aber nun hast du auch mich erwartet, und den Eingang durch den Spiegel konntest du nicht blockieren, weil der Mechanismus eingemauert ist. Warum hast du mich erwartet? Wie konntest du so sicher sein, daß ich kommen würde?« William fragte, doch es klang, als ob er die Antwort bereits erriet und sie nur als Preis für seine Geschicklichkeit hören wollte.
»Vom ersten Tage an war mir klar, daß du die Sache aufklären würdest. Ich merkte es an deiner Stimme, an der Art, wie du mich dazu brachtest, über Dinge zu diskutieren, die ich nicht erörtert zu haben wünschte. Du warst besser als die anderen, du würdest es irgendwie schaffen. Du weißt ja, man braucht nur die Gedankengänge des anderen im eigenen Kopf zu rekonstruieren. Dann hörte ich, wie du den Mönchen Fragen stelltest, immer die richtigen. Aber nie fragtest du nach der Bibliothek, als wären dir ihre Geheimnisse längst bekannt. Eines Nachts klopfte ich an deine Zellentür, und du warst nicht da. Sicherlich warst du hier. Aus der Küche waren zwei Lampen verschwunden, ich hörte
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