Der Neue Frühling
zurechtgewiesen hätte, der das Wort benutzt hätte. Doch ohne jeden Zweifel würde sie, sobald sie die Stola errungen hatte, fort sein, und zwar wie ein von einem Bogen abgeschossener Pfeil. Und dann würden sie sich vielleicht in zehn Jahren oder einer vielleicht noch längeren Zeitspanne zweimal sehen. Das versetzte Moiraine einen Stich, aber sie hatte nicht die geringsten Zweifel, dass sich ihre Vorhersage bewahrheiten würde. Nein, dazu brauchte man nicht die Gabe der Vorhersage. Das war ein Gedanke, der in die falsche Richtung führte.
Als sie um eine weitere Ecke bogen und an einer schmalen Marmortreppe vorbeigingen, die nach unten führte, verblasste Siuans Stirnrunzeln und sie fing an, Moiraine mit langen Seitenblicken zu mustern. Hier waren die Bodenfliesen hellgrün und der Läufer dunkelgelb, und die weißen Wände waren leer. In diesem Teil der Burg, der mehr von Dienern als von Schwestern benutzt wurde, waren die Lampen nicht vergoldet.
»Du versuchst, das Thema zu wechseln, oder?«, sagte Siuan abrupt.
»Welches Thema?«, fragte Moiraine und hätte beinahe gelacht. »Üben oder Frühstück?«
»Du weißt genau, welches Thema, Moiraine. Was hältst du davon?«
Das aufsteigende Gelächter verschwand. Die Frage, was damit gemeint war, war überflüssig. Genau die Sache, über die sie nicht nachdenken wollte. Er ist wiedergeboren worden. Sie konnte Gitaras Stimme in ihren Gedanken hören. Der Drache nimmt seinen ersten Atemzug ... Diesmal hatte ihr Frösteln nichts mit der Kälte zu tun.
Seit mehr als dreitausend Jahren hatte die Welt darauf gewartet, dass sich die Prophezeiungen des Drachen erfüllten; sie hatte sie gefürchtet und doch gewusst, dass sie die einzige Rettung der Welt verkündeten. Und jetzt würde ein Junge geboren werden – möglicherweise sogar in diesem Augenblick, so wie Gitara es gesagt hatte –, um diese Prophezeiungen zu einem Abschluss zu führen. Er würde an den Hängen des Drachenbergs geboren werden, dort wiedergeboren werden, wo der Mann, der er einst gewesen war, angeblich gestorben war. Vor mehr als dreitausend Jahren hatte sich der Dunkle König um ein Haar befreit und war in die Welt der Menschen eingedrungen; er hatte den Schattenkrieg entfesselt, der schließlich mit der Zerstörung der Welt geendet hatte. Alles war zerstört worden, das Antlitz der Erde hatte sich verändert, die Menschheit war auf ein paar zerlumpte Flüchtige reduziert worden. Jahrhunderte waren vergangen, bevor der einfache Kampf ums Überleben der Errichtung neuer Städte und Nationen gewichen war. Die Geburt des Säuglings bedeutete, dass sich der Dunkle König wieder befreien würde, denn das Kind würde zur Welt kommen, um dem Dunklen König bei Tarmon Gai'don entgegenzutreten, der Letzten Schlacht. Auf ihm ruhte das Schicksal der Welt. Die Prophezeiungen besagten, dass all ihre Hoffnungen auf ihm ruhten. Sie sagten nicht, wer den Sieg davontragen würde.
Doch vielleicht noch schlimmer als der Gedanke an seine Niederlage war die Tatsache, dass er Saidin lenken würde, die männliche Hälfte der Einen Macht. Das ließ Moiraine nicht nur frösteln, sondern erschaudern. Saidin trug den Makel des Dunklen Königs. Gelegentlich gab es Männer, die den Versuch unternahmen, die Macht zu lenken. Einigen gelang es sogar, sich das selbst ohne Lehrer beizubringen und es zu überleben, keine geringe Tat. Von vier Frauen, die versuchten, das auf eigene Faust zu lernen, überlebte nur eine. Einige der Männer brachen Kriege vom Zaun, für gewöhnlich waren es falsche Drachen, Männer, die behaupteten, der Wiedergeborene Drache zu sein, während andere versuchten, sich im Alltagsleben zu verstecken, aber wenn sie nicht aufgespürt und nach Tar Valon gebracht und gedämpft wurden – für alle Zeit von der Macht abgeschnitten wurden –, fiel jeder einzelne von ihnen dem Wahnsinn zum Opfer. Das konnte Jahre dauern oder auch nur Monate, aber es war unausweichlich. Wahnsinnige, die Zugang zur Einen Macht hatten, die das Rad der Zeit drehte und das Universum am Leben hielt. Die Chroniken waren gefüllt mit dem Schrecken, den solche Männer angerichtet hatten. Und die Prophezeiungen besagten, dass der Wiedergeborene Drache die Welt erneut zerstören würde. Würde sein Sieg besser als der Sieg des Dunklen Königs sein? Ja, ja; es musste so sein. Selbst die Zerstörung der Welt hatte Überlebende hinterlassen, die schließlich einen Neuaufbau begannen. Der Dunkle König würde nur ein Beinhaus hinterlassen.
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