Der Neue im Sportinternat
Maurice ist aufmerksam und zu den Lehrern auffallend höflich. Er ist in die Rolle vom netten Bubi mit Sonntagsmanieren geschlüpft. Dass er ein Psychopath ist, registriert niemand. Maurice täuscht seine ganze Umwelt, scheint es.
Es ist Freitagmorgen, kurz nach halb 7. Leon liegt noch im Bett, hat keine Lust aufzustehen. Hakan ist schon duschen. Leon findet es zum Kotzen, dass sich sein Vater seit dem letzten Telefongespräch nicht wieder gemeldet hat. Was für eine erbärmliche Gleichgültigkeit! Ihm ist es völlig schnurz, ob Leon aus dem Internat fliegt oder nicht. Leon überrascht das nicht sonderlich, dennoch tut es weh. Von einem Vater darf man mehr erwarten! Es klopft an der Tür.
»Ja?«, ruft Leon.
»Ich bin's. Nils!«
»Komme!« Leon steht auf, schlurft zur Tür, öffnet und lässt Nils ins Zimmer. »Frühaufsteher machen mir Angst!« Er schüttelt das Kopfkissen auf und legt sich wieder ins Bett.
Nils setzt sich zu Leon. In seiner Hand hält er den Mikrokassettenrekorder von Adrian.
»Sag mir nicht, du hast mir Affirmationen drauf gequatscht und ich soll mir die Kassette nonstop anhören!«, scherzt Leon, obwohl ihm eigentlich nicht danach zumute ist.
»Heute ist ein schöner Tag! Heute ist ein schöner Tag!« Nils verzieht das Gesicht, saugt die Wangen von innen zusammen, so dass sich seine Lippen zu einem kleinen Schnabelmund formen. Er schlägt mit den Augenlidern wie ein Kolibri mit den Flügeln. Vom Hinsehen wird einem schwindelig! Als Leon schmunzelt, hört Nils mit dem Blödsinn auf. »Ernsthaft«, sagt er, »heute ist ein schöner Tag, auch für dich! Du weißt es nur noch nicht.«
»Hast du mit Mateo 'n Joint geraucht und bist in aller Herrgottsfrühe stoned?«
»Nee, lass mich mal was sagen!« Nils rutscht auf der Matratze hin und her, bis er bequem sitzt. »Leon, ich hätte nie gedacht, dass ich hier im Internat Freunde finden würde. Mit dir hat sich alles für mich verändert! Ich habe immer nur schlechte Erfahrungen gemacht. Manchmal haben Typen Freundschaft vorgetäuscht und sich hinter meinem Rücken über mich lustig gemacht. Für die war ich eben immer nur der Fette. Dir vertraue ich. Du bist anders! Ich muss dir etwas beichten! Ich habe den Brief an Winkler geschrieben!«
»Du?«
»Ja! Ich habe mich nicht getraut, persönlich zu Winkler zu gehen. Ich wollte mir sicher sein, dass du mich auch nicht nur verarschst.«
Leon ist hellwach, setzt sich neben Nils. »Was weißt du? Was hast du gesehen?«
»Alles! Ich kann bezeugen, was geschehen ist. Ich war im Park, habe ein bisschen Fitness gemacht. Plötzlich kam Maurice aus dem Sportkomplex rausgelaufen. Er war total aufgebracht. Ich habe mich versteckt. David Pragosch und zwei andere Sportler, die ich nicht kenne, sind Maurice gefolgt. Dafür wirst du büßen, du dumme Fotze!, hat Pragosch gerufen und ein Flugblatt in der Hand gehalten. Als er Maurice eingeholt hatte, hat er ihm das Flugblatt ins Maul gestopft. Die beiden anderen Sportler haben Maurice festgehalten. Pragosch hat Maurice verprügelt! Er hat ihn windelweich geschlagen. Geistesgegenwärtig wie ich war, habe ich mit meinem Rekorder alles aufgenommen.« »Du hast was?« Leon fällt Nils um den Hals. »Wieso rückst du erst jetzt damit raus? Oh! -Nils! Ich hab die Hölle hinter mir!«
Nils spielt das Band ab, damit Leon mit eigenen Ohren hören kann, was sich zugetragen hat.
»Als wir Billard gespielt haben, hat mich deine Traurigkeit fertig gemacht. Du bist mein Freund! Das konnte ich nicht mehr länger mitansehen! Es ist Zeit für mich, mich zu trauen und mein Schneckenhaus zu verlassen! Die Angst, immer wieder ausgelacht zu werden, muss ich irgendwie in den Griff bekommen. Mit der Zeit wird das wohl schon funktionieren. Ich will nämlich nicht länger eine Witzfigur für andere sein!« Nils drückt den Rekorder Leon in die Hand.
»Wie kann ich dir nur danken?«
»Du musst mir nicht danken! Wir sind Freunde, Leon!«
Leon umarmt Nils und drückt ihn freundschaftlich an sich. »Homiesforever, Nils!«
»Ja! Homies für immer!« Nils wartet einen Moment, denn auch seine Emotionen stehen bis kurz vor den Augen. »Das Beste weißt du aber noch nicht! Ich bin der totale PC-Profi. Glücklicherweise ist unser Computerraum nobel ausgestattet. Die Kassettenaufnahme habe ich digitalisiert und auf CD gebrannt.«
»Wozu? Willst du damit in die Deutschen Top Ten?«
»Sei nicht so voreilig! Hör mir gefälligst zu!«
»Sorry!«
»Die CD, ein Audio-Beweis, habe ich
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