Ewige Versuchung - 5
Kapitel 1
Irgendwo in Europa, 1899
E r sollte sie umbringen. Ob er es konnte, war nicht die Frage, die ihn umtrieb, sondern vielmehr die, warum er es nicht längst getan hatte.
Auf seiner schmalen Pritsche in der feuchtkalten Zelle lauschte Temple den Schritten über ihm. Es waren lange, entschlossene Schritte, mit denen seine Besucherin auf die Tür zustrebte, die in den Keller führte, in dem sie ihn gefangen hielten, und das schon … er hatte keine Ahnung, wie lange. Inzwischen war ihm ihr Gang ebenso vertraut wie sein eigener. Nach und nach tauchte er aus der schummrigen Benommenheit, in die sie ihn versetzt hatte, wieder auf. Seit Tagen klärte dieser Nebel sich beständig, allerdings ließ er sich nicht anmerken, dass ihre Drogen nicht mehr wirkten.
Nun, da er größtenteils wieder bei Kräften war, hatte er nicht übel Lust, seine wohlriechende Wärterin zu töten.
Um nicht zu sagen, er war versucht, alle möglichen Dinge mit ihr anzustellen.
Als sie ihn gefangen genommen hatten, hatten sie ein Mittel eingesetzt, ein Gift, das seine Nerven betäubte und ihn bewusstlos machte. In diesem Zustand beließen sie ihn über die weiteste Strecke der Reise. Und am Ziel, wo immer das sein mochte, stellten sie ihn von dem Gift auf Opium um – große Mengen von Opium, die ihm von der einen Person verabreicht wurden, der sie den Umgang mit ihm zutrauten. Die eine Person, von der seine Entführer offenbar glaubten, sie könnte ihn notfalls überwältigen.
Vivian.
Ihre Herzfrequenz verdoppelte sich beinahe, sobald sie sich ihm näherte. Das wusste Temple, weil er es hörte. Von der Liege in seinem Silbergefängnis aus konnte er hören, wie sie näher kam und es in ihrem Brustkorb
wump-wump-wump
machte.
Ein Vampir zu sein hatte Vorteile, und einer davon war der, dass er spürte, wenn eine Frau sich zu ihm hingezogen fühlte. Was bei Vivian der Fall war. Mit derselben Leidenschaft, wenn nicht gar noch größerer, fürchtete sie ihn. Das war nichts Persönliches, sondern lediglich der Tatsache geschuldet, dass er, wie gesagt, ein Vampir war. Aber ihre Angst vor ihm war nicht der alleinige Grund für ihren beschleunigten Herzschlag in seiner Nähe.
Gott sei Dank konnte sie nicht hören, wie
sein
Herz auf sie reagierte!
Er nahm den zarten Ingwer-Pfirsich-Duft ihrer Haut wahr, als sie die Kellertreppe hinunterkam. Trotzdem schwang er seine Beine nicht von der Liege. Drei Tage schmerzhafte eiternde Brandblasen an den nackten Fußsohlen, nachdem er erstmals zu entkommen versucht hatte, hielten ihn davon ab. Auf dem Boden nämlich befanden sich Kleckse von Silberfarbe, die ihm die Füße verbrannt hatten. Und jede Stunde erschien ein anderer Wächter, der einen feinen Weihwassernebel durch die Gitter sprühte – nur für den Fall, dass Brandblasen und Opium nicht ausreichten.
Aber nicht einmal der Gedanke an Brandblasen konnte ihm ihren Anblick verleiden. Und er sah hinreichend klar, um ihn richtig zu genießen. O ja, er könnte sie schon deshalb töten, weil sie eine von
ihnen
war, aber das änderte nichts daran, dass diese Frau ein fleischgewordenes Stück Paradies war!
Sie musste mindestens eins achtzig groß sein, was er allerdings nur riet, denn er hatte bisher nicht die Ehre gehabt, neben ihr zu stehen. Und obgleich sie stets Hose, Hemd, Weste und Stiefel trug, konnte man sie unmöglich für einen Mann halten. Ihre Schenkel waren viel zu schlank, ihre Hüften zu wohlgerundet, ihre Taille zu schmal und ihre Brüste … nun, die dürften je eine gute Handvoll sein, und Temple besaß große Hände.
Womit ihre Reize sich längst nicht erschöpften. Da waren noch ihre Haut, welche die Farbe und Textur von sattem Rahm hatte, und ihre Wangen und Lippen in einem dunklen Pfirsichton. Ihre Augen strahlten in derselben Farbnuance wie ein sturmgepeitschtes Meer, und Temple hatte von jeher eine Vorliebe für rauhes Wetter. Aber ihr Haar war es, das jeden Betrachter ganz besonders faszinieren musste. Die Natur hatte ihm ein Rot verliehen, das ebenso rar sein dürfte wie seine Dichte und sein ausgesprochen seidiger Glanz.
Zudem war sie stärker und schneller, als eine Frau es sein sollte. Welche sonstigen ungewöhnlichen Fähigkeiten besaß sie, dass Villiers sie mit der Aufsicht über einen großen bösen Vampir betraute?
Sie war Mitglied des Silberhandordens; so viel hatte er inzwischen mitbekommen. Der Mann, dem sie unterstand – Rupert Villiers –, bekleidete offenbar einen hohen Rang in diesem Orden, sofern er
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