Der neunte Buddha - Thriller
auf Elizabeths Grab.
Die Weihnachtsmesse war beim Vaterunser angelangt. Der Priester sprach das bekannte Gebet laut vor, es ging ihm glatt von den Lippen. Die Worte musste er schon Tausende Male in seinem Leben hergesagt haben. Der junge Mann von Anfang Dreißig hatte im Krieg als Feldgeistlicher gedient. Christopher fragte sich, woran er beim Gebet wohl dachte. An Christus, der da hing, Hände und Füße an den hölzernen Rahmen seines Gott geweihten Lebens genagelt? An den Ernst seiner täglichen Verrichtungen? An seine Rolle als Priester, bestimmt, zu verbinden und zu trennen, zu verfluchen und zu segnen? Oder hatte er das bevorstehende Festessen im Kopf – Steckrüben und Fleischpastete, dazu gebratene Kartoffeln, die in dicker Soße schwammen?
Ein aufmerksamer Betrachter konnte auf den ersten Blick erkennen, dass der Engländer Christopher Wylam wenig Zeit in England verbracht hatte. Er schien sich in den dicken Wintersachen gar nicht wohl zu fühlen, und seine Haut hatte viel von der Färbung bewahrt, die man nur in wärmerem Klima erwirbt. Das blonde Haar war von der Sonne gebleicht und aus der hohen, traurigen Stirn gekämmt. In seinen Augenwinkeln zeigten sich bereits Fältchen, feingeätzte Linien, die auf die Schläfen zuliefen wie die Fäden eines Spinnennetzes. Unter schweren Lidern schauten dunkelblaue Augen hervor, deren Blick von einer Tiefe und Klarheit war, dass er andere Menschen überraschen konnte. Vielleicht lag es nur am Kerzenlicht in der Kirche, aber mankonnte spüren, dass die Vorgänge um ihn herum ihn wenig berührten und er andere, ferne Bilder vor sich sah.
Er blickte sich um in dem kleinen Raum. Zur Abendmesse waren nicht viele Menschen gekommen. Männer, Frauen und unruhige Kinder füllten die ersten Reihen. Einige, weil sie wirklich glaubten, andere aus Gewohnheit oder Pflichtgefühl. Er selbst war wegen William gekommen, vielleicht aber auch als Buße dafür, dass er Elizabeth alleingelassen hatte. Der Priester hatte die Hostie gebrochen und den Leib Christi gegessen. Er hob den Kelch und trank den geweihten Wein, das Blut Gottes, das Blut Christi, das Blut der Welt, das rote Blut der Erlösung.
Christopher versuchte sich vorzustellen, wie der Wein wohl schmecken mochte. Als ihm einfiel, dass es sich um verwandeltes Blut handelte, spürte er einen sauren Geschmack in seiner Kehle aufsteigen. Pater Middleton hatte über die Ankunft Christi gepredigt und dafür gebetet, dass der Weihnachtsfriede das ganze kommende Jahr anhalten möge. Aber Christopher konnte das bleiche Gotteskind der Weihnacht nicht willkommen heißen. Keine Freude erfüllte sein Herz an diesem Abend, nur dumpfer Groll, der gegen Gott und dessen trügerisches Jubelfest aufbegehrte.
Tiefes Schweigen breitete sich aus, als der Priester ein Stück der Hostie vor der Gemeinde hochhielt.
» Ecce Agnus Dei – sehet das Lamm Gottes«, sprach er. »Q ui tollit peccata mundi - das hinwegnimmt die Sünde der Welt.«
Eines nach dem anderen erhoben sich die Mitglieder der Gemeinde und schritten zum Altar, alle von Sünden bedrückt, außer den Kindern. Christopher stand auf und folgte William zu der Reihe der wartenden Sünder. Ein alter Mann kniete nieder, öffnete den Mund und streckte seine Zunge ein wenig heraus, um den Leib des Herrn zu empfangen.
Corpus Domini nostri …
So viele Sünden, dachte Christopher bei sich, als er den silbernen Hostienteller im Kerzenlicht blinken sah. Die Hostie berührte die Zunge des alten Mannes. Lässliche Sünden, die sieben Todsünden. Sünden des Tuns und des Lassens, die Sünden von Hochmut, Lust und Völlerei, Sünden des Fleisches, des Geistes und des Glaubens. Sünden der Augen, der Ohren und des Herzens.
… Jesu Christi …
Christopher kniete nieder und öffnete den Mund. Er spürte, wie die Oblate seine Lippen berührte – trocken, trist und ohne jeden Geschmack.
… custodiat animam tuam in vitam aeternam. Amen.
Als Elizabeth starb, war etwas von ihm mit ihr gegangen. Vor der Messe hatten er und William ihr Grab aufgesucht, einen kleinen schneebedeckten Hügel unter so vielen anderen hinter der Kirche. Sie gehörte nun wieder der Mutter Erde. Das Begräbnis fiel ihm ein, der Frost, der steinhart gefrorene Boden, gegen den Spaten nichts ausrichten konnten, die schwarzen Pferde, deren Atem nackt und verlassen in der dünnen Winterluft hing.
Er sah seine Frau vor sich, wie sie in den letzten zwei Monaten gewesen war: kreidebleich, dann wieder hochrot vom Fieber, in
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