Der Oligarch
wurde. Um zwei Uhr, weil Charkow zu diesem Zeitpunkt den Anruf erhalten würde, der ihn auf die Straße locken würde. Der Anruf, der signalisieren würde, dass das Ende nahe war.
Als Ausgangspunkt wählten Gabriel und Michail den Rand eines kleinen Spielplatzes am Nordende des Chemin des Conquettes. Das taten sie, weil sie glaubten, das sei angemessen – und weil der Eingang der Villa Romana nur fünfzig Meter entfernt war. Sie saßen in dem Halbschatten zwischen zwei Straßenlampen auf ihren Motorrädern und lauschten den Stimmen in ihren Ohrhörern. Niemand würdigte sie eines zweiten Blickes. In einer warmen Sommernacht morgens um zwei Uhr auf einem Motorrad zu sitzen, ist in Saint-Tropez nichts Ungewöhnliches – vor allem wenn das Donnergrollen der ersten Herbstgewitter nur wenige Tage entfernt ist.
Es war jedoch kein Donner, der sie dazu brachte, ihre Motoren anzulassen, sondern eine ruhige Stimme. Sie teilte ihnen mit, eben sei Charkow angerufen worden. Sie warnte die beiden, es sei gleich so weit. Gabriel tastete nach der Glock Kaliber 45, die mit Hohlladungsgeschossen von großer Zerstörungskraft geladen war und hinten in seinem Hosenbund steckte, und rückte sie etwas zurecht. Dann klappte er das Visier seines Sturzhelms herunter und wartete auf das Signal.
Der Anruf kam von Oleg Rudenko in Moskau – zumindest wurde Charkow in diesem Glauben gewiegt. Er war sich nicht ganz sicher. Und würde es nie sein. Die Verbindung war zu schlecht, die Musik zu laut. Charkow registrierte lediglich Dreierlei: der Anrufer sprach Russisch, wusste seine Handynummer und sagte, die Sache sei äußerst wichtig. Das genügte, um ihn aufstehen und – mit dem Telefon an einem Ohr und der freien Hand über dem anderen – auf die ruhige Straße hinausgehen zu lassen. Falls Charkow die näherkommenden Motorräder hörte, ließ er sich nichts davon anmerken. Tatsächlich brüllte er auf Russisch in sein Handy und stand mit dem Rücken zur Straße, als Gabriel seine Maschine zum Stehen brachte. Die Leibwächter am Eingang witterten Unheil und machten den Fehler, in ihre Blazer zu greifen. Michail schoss beiden ins Herz, bevor sie auch nur ihre Pistolen berühren konnten. Als Charkow sie zusammenbrechen sah, fuhr er in panischer Angst herum, nur um sich mit der Mündung des Schalldämpfers von Gabriels Glock konfrontiert zu sehen. Gabriel klappte sein Helmvisier hoch und lächelte. Dann drückte er ab und Charkows Gesicht verschwand. Für Grigorij, dachte er, als er in die Dunkelheit davonraste. Für Chiara.
A NMERKUNG DES V ERFASSERS
The Defector ist ein Roman. Die in diesem Werk vorkommenden Personen, Orte und Ereignisse sind das Produkt der Phantasie des Autors beziehungsweise von ihm fiktionalisiert worden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen, Firmen, Unternehmen, Ereignissen oder Schauplätzen wäre rein zufällig.
Den sibirischen Ölriesen Rusoil gibt es so wenig wie die Moskowskaja Gaseta oder das Reisebüro Galaxy Travel in der Twerskaja ulitsa. Wiktor Orlow, Olga Schukowa und Grigorij Bulganow dürfen keinesfalls als fiktionalisierte Ebenbilder realer Personen aufgefasst werden.
Die Zentrale des israelischen Geheimdiensts befindet sich nicht mehr am King Saul Boulevard in Tel Aviv. Dass ich mich dafür entschieden habe, die Zentrale meines fiktiven Diensts dort zu belassen, liegt mit daran, dass mir der Straßenname schon immer gefallen hat. Mit Flugplänen habe ich jongliert, um sie für meine Story passend zu machen. Wer von Moskau aus nach London möchte, wird vergeblich nach Aeroflot-Flug-247 suchen. In Zürich gibt es keine Privatbank namens Becker & Puhl, auch ihre internen Arbeitsabläufe sind eine Erfindung des Verfassers. Die Aufgaben des Vorauskommandos zur Vorbereitung von Staatsbesuchen des US-Präsidenten sind zutreffend geschildert, aber meines Wissens hat das Vorauskommando nie einem israelischen Spion eine Tarnung verschafft.
In Konakowo gibt es keinen Flugplatz, zumindest nach meinen Informationen nicht, und im FSB existiert keine Koordinationsabteilung. In der Alten Sakristei der St. George’s Church in Bloomsbury trifft sich in der Tat jeden Dienstagabend ein Schachclub. Er heißt Greater London Chess Club, nicht Central London Chess Club, und seine Mitglieder sind ungemein reizend und zuvorkommend. Bei der Geschäftsleitung der Villa Romana in Saint-Tropez muss ich mich aufrichtig dafür entschuldigen, dass ich vor ihrer Tür ein Attentat verübt habe, aber es
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