Der Pathologe
übelsten Straßen der Stadt aus zu Fuß zu erreichen war. Tagsüber ein Ort florierender Geschäfte, aber nachts völlig verlassen. An der Peripherie befanden sich verfallene Häuser und lückenhafte Zäune, streunende Katzen und lange Schatten, und dort hatte der Mörder Jocelyns Leiche abgeladen. Sie war erwürgt und aufgeschlitzt und hinter einem leeren Ölfass verstaut worden. So viel hatten die Detectives Jeremy gegenüber durchblicken lassen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Zeitungen diese nackten Fakten berichtet.
Zwei Detectives hatten den Fall bearbeitet. Doresh und Hoker, beide kräftige Männer in den Vierzigern mit tristen Klamotten und dem Teint von Alkoholikern. Bob und Steve. Doresh hatte dunkles, lockiges Haar und ein Grübchen im Kinn, in dem man einen Zigarettenstummel hätte unterbringen können. Hoker hatte hellere Haare, eine Nase wie ein Schweinerüssel und einen derart kleinen, verkniffenen Mund, dass Jeremy sich fragte, wie er damit essen konnte.
Groß und schwerfällig waren beide. Aber scharfäugig.
Von Anfang an behandelten sie Jeremy wie einen Verdächtigen. An dem Abend, als Jocelyn verschwunden war, hatte er das Krankenhaus um halb sieben verlassen, war nach Hause gegangen, hatte gelesen und Musik gehört, das Abendessen vorbereitet und auf sie gewartet. Die Hecken, die seinen winzigen Vorgarten säumten, verhinderten, dass seine Nachbarn sahen, wann er nach Hause kam oder wegging. In seiner unmittelbaren Umgebung wohnten ohnehin hauptsächlich Mieter, Leute, die kamen und gingen, die wenig einladenden Bungalows kaum möblierten und sich nie die Zeit zu nachbarlicher Kontaktpflege nahmen.
Das späte Abendessen für zwei Personen, das er vorbereitet hatte, bewies in den Augen der Detectives Bob Doresh und Steve Hoker keineswegs Jeremys Unschuld, es nährte im Gegenteil ihren Verdacht. Denn um drei Uhr nachts, geraume Zeit nachdem er sich Gewissheit verschafft hatte, dass Jocelyn nicht wegen eines Notfalls eine Doppelschicht eingelegt hatte, und kurz nachdem seine Vermisstenmeldung bei der Polizei eingegangen war, hatte Jeremy den Salat und die ungegessene Pasta in den Kühlschrank gestellt, die Gedecke abgeräumt und das Geschirr gespült.
Beschäftigungstherapie, um seine wachsende Beklemmung zu unterdrücken, aber den Detectives erschien solche Sorgfalt untypisch für einen beunruhigten Liebhaber, dessen Mädchen nicht nach Hause gekommen war. Es sei denn, natürlich, besagter Liebhaber wusste schon die ganze Zeit …
So ging es eine ganze Weile weiter, die beiden Büffel behandelten Jeremy entweder von oben herab oder setzten ihn unter Druck. Die Überprüfung seines Vorlebens, wie gründlich auch immer, ergab nichts Unangenehmes, und ein DNS-Abstrich von seiner Wange stimmte nicht mit dem überein, womit auch immer sie es in Übereinstimmung zu bringen versuchten.
Seine Fragen wurden von wissenden Blicken beantwortet. Sie sprachen mehrere Male mit ihm. In seinem Büro im Krankenhaus, bei ihm zu Hause, in einem Vernehmungszimmer, das nach Umkleideraum roch.
»Waren Gewebespuren unter ihren Fingernägeln?«, sagte er mehr zu sich selbst als zu den Detectives.
»Wie kommen Sie auf diese Frage, Dr. Carrier?«, wollte Bob Doresh wissen.
»Jocelyn würde sich zur Wehr setzen. Wenn sie die Möglichkeit dazu hatte.«
»Würde sie das?«, sagte Hoker und beugte sich über den grünen Metalltisch.
»Sie war äußerst sanft – wie ich Ihnen gesagt habe. Aber sie würde kämpfen, um sich zu verteidigen.«
»Eine Kämpfernatur, hmm … Würde sie so ohne weiteres mit einem Fremden mitgehen? Einfach mit jemandem losziehen?«
Wut durchzuckte Jeremys Brustmuskeln. Er kniff die Augen zusammen, und seine Finger krallten sich um die Tischplatte.
Hoker lehnte sich zurück. »Doktor?«
»Wollen Sie sagen, so wäre es passiert?«
Hoker lächelte.
»Sie geben
ihr
die Schuld?«, fragte Jeremy.
Hoker blickte zu seinem Partner hinüber. Sein Rüssel zuckte, und er sah zufrieden aus. »Sie können jetzt gehen, Doktor.«
Schließlich ließen sie ihn in Ruhe. Aber es war bereits zu spät; Jocelyns Familie war mit dem Flugzeug angekommen – sowohl ihre Eltern als auch eine Schwester. Sie schnitten ihn. Er wurde nicht zum Begräbnis eingeladen.
Er versuchte sich über den Fortgang der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten, aber seine Anrufe beim Morddezernat wurden von einem Beamten in der Zentrale abgefangen:
Sind nicht im Haus. Ich werde Ihre Nachricht weiterleiten.
Ein Monat verstrich.
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