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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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kehrtmachte und ins letzte Licht des vorletzten Tages trat, den er noch hatte.
    Bis Ricky wieder am Farmhaus war, schwebte die erste Dunkelheit schwerelos über der Landschaft. Im Sommer, dachte er, lässt die richtig tiefe Nacht bis zwölf oder später auf sich warten. Auf den Feldern rings um sein Haus zirpten die Grillen, und über ihm sprenkelten die ersten Sterne den Himmel. Ein Bild des Friedens, dachte er. Eine Nacht, in der man keine Sorgen und Probleme haben sollte.
    Er rechnete halb damit, drinnen auf Merlin oder Virgil zu treffen, doch es war still und leer. Er knipste die Lichter aus, ging in die Küche und brühte sich eine Tasse Kaffee auf. Dann setzte er sich an den Holztisch, an dem er über die Jahre so oft mit seiner Frau gegessen hatte, und öffnete den Brief, den er in der Bank erhalten hatte. In dem Kurierbeutel befand sich ein Umschlag, auf dem in Druckschrift sein Name stand.
    Ricky riss ihn auf und zog einen gefalteten Bogen Papier heraus. Er war mit Briefkopf versehen, so dass er den Eindruck einer mehr oder weniger routinemäßigen Geschäftskorrespondenz vermittelte. Auf dem Briefkopf stand:
R. S. Chen
Privatdetektei
»Alle Ermittlungen streng vertraulich«
Postfach 66-66
Church Street Station
New York, N. Y. 10008
    Es folgte ein kurzes Schreiben im knappen Geschäftston:
Sehr geehrter Herr Dr. Starks,
     
    betreffs Ihrer kürzlichen Anfrage in unserem Büro freuen wir uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Ihre
Vermutungen richtig sind. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehen wir uns allerdings außerstande, Ihnen hinsichtlich der fraglichen Personen mit weiteren Einzelheiten zu dienen. Wir sind uns dessen bewusst, dass Sie unter beträchtlichem Zeitdruck stehen. Aus diesem Grunde können wir Ihnen – ungeachtet etwaiger künftiger Anfragen Ihrerseits – mit keinen weiteren Informationen dienlich sein. Unter veränderten Umständen wenden Sie sich bitte mit weiteren Anfragen vertrauensvoll an unser Büro.
    Rechnung für in Anspruch genommene Dienste folgt binnen vierundzwanzig Stunden.
     
    Hochachtungsvoll,
    R. S. Chen, Geschäftsführer
Privatdetektei R. S. Chen
    Ricky las den Brief dreimal durch, bevor er ihn auf den Tisch zurücklegte. Es war, wie er einräumen musste, ein wirklich bemerkenswertes Dokument. Fast bewundernd, auf jeden Fall verzweifelt, schüttelte er den Kopf. Die Anschrift wie auch die Detektei waren mit Sicherheit reine Phantasie. Doch nicht darin lag das Geniale dieses Briefs. Das wirklich Geniale war, dass dieser Brief auf jeden außer Ricky vollkommen unbedeutend wirken musste. Alles andere, was ihn mit Rumpelstilzchen in Verbindung brachte, war aus Rickys Leben getilgt. Die kleinen Gedichte, der erste Brief, die Tipps und Anweisungen waren allesamt entweder vernichtet oder gestohlen. Dieser Brief nun sagte Ricky, was er wissen musste, doch auf eine Weise, die bei niemandem sonst, in dessen Hände er fallen mochte, Misstrauen erregen würde. Und sollte doch jemand neugierig werden, würden seine Nachforschungensehr schnell in einer Sackgasse enden. Eine Spur, die sich im Nichts verlor.
    Das, musste Ricky ihm lassen, war intelligent.
    Er wusste, wer ihn dazu bringen wollte, sich das Leben zu nehmen, und falls er der Forderung nicht nachkam, so wusste er auch, dass derjenige über die Möglichkeiten verfügte, genau das zu tun, was er von Anfang an versprochen hatte: die Rechnung für seine Dienste schicken.
    Er wusste, dass das ganze Chaos, das Rumpelstilzchen in den letzten beiden Wochen in seinem Leben angerichtet hatte, sich in nichts auflösen würde, wenn er sich an das Ultimatum hielt. Der vermeintliche sexuelle Missbrauch, dem seine berufliche Laufbahn zum Opfer gefallen war, das Geld, die Wohnung, das ganze Intrigengebäude, das in diesen zwei Wochen über ihn hereingebrochen war, hätte sich, sobald er tot war, erledigt.
    Doch dann dachte er den schlimmsten Gedanken zu Ende: Niemand würde sich darum scheren.
    Er hatte sich beruflich wie gesellschaftlich über die letzten Jahre isoliert. Von seinen Verwandten hatte er sich vielleicht nicht gerade entfremdet, zumindest aber sehr zurückgehalten. Er hatte keine Familie im engeren Sinne und keine echten Freunde. Seine Beerdigung würden Leute in dunklem Anzug mit angemessen betroffener Miene und falscher Reue bevölkern. So viel zu seinen Kollegen. Auf ein paar Kirchenbänken würden wohl frühere Patienten sitzen, denen er geholfen hatte. Sie würden ihre Emotionen entsprechend zum Ausdruck bringen. Doch es

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