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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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diese Zeit, und ein paar der Hügel verbarg der Nebeldunst. Die Welt lag noch wie eine leicht verwackelte Fotografie unter einem grauen Schleier. Der Morgen kroch Ricky unters Hemd, als er zitternd auf dem Bürgersteig stand. Er wusste genau, wo er war – etwas über drei Meilen von seinem Haus entfernt, an einer Stelle, an der er hunderte Male vorbeigefahren war. Doch unter den jetzigen Umständen wirkte alles fremd, ein wenig daneben wie ein Instrument, das die richtigen Noten in der falschen Tonart spielt. Ein, zwei Minuten lang dachte er daran, sich ein Taxi heranzuwinken, dann machte er sich, immer den Highway entlang, wie ein kriegsmüder Soldat zu Fuß auf den Weg.
    In einer knappen Stunde hatte Ricky die Schotterstraße erreicht, die zu seinem Haus hinunterführte. Inzwischen hatte sich die unvermeidliche Sommerhitze eingestellt, und an den umliegenden Hängen war der Nebel größtenteils verdunstet. Von seinem Standort am Eingang seines Hauses aus konnte er etwa zwanzig Meter weiter auf der Straße drei schwarze Krähen sehen, die aggressiv am Kadaver eines Waschbären pickten. Das Tier hatte in der Nacht davor den falschen Moment gewählt, um die Straße zu überqueren, und war in dieser Sekunde einem anderen Tier zum Fraß geworden. Die Krähen hatten eine Art zu fressen, die einen Moment lang Rickys Aufmerksamkeit fesselte: Sie standen neben dem toten Tier und drehten unablässig die Köpfe hin und her, als verstünden sie die Gefahren, die ihnen mitten auf der Straße drohten, und kein noch so nagender Hunger brachte sie dazu, auch nur eineSekunde in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Hatten sie sich davon überzeugt, dass sie sicher waren, stießen ihre grausam langen Schnäbel wieder in den Kadaver und zerrissen das Fleisch. Offenbar nicht bereit, sich den Überfluss zu teilen, den sie einem rasenden BMW oder Geländewagen verdankten, hackten sie auch aufeinander ein. Es war ein vertrauter Anblick, und normalerweise hätte Ricky kaum darauf geachtet. An diesem Morgen jedoch machten ihn die Vögel wütend, als hackten ihre Schnäbel auf ihm herum. Aasfresser, dachte Ricky wütend. Weiden sich an den Toten. Plötzlich hob er die Hände und wedelte heftig in ihre Richtung. Doch die Vögel ignorierten ihn, bis er ein paar bedrohliche Schritte in ihre Richtung machte. Da flatterten sie laut krächzend in die Luft, um kurz über den Bäumen zu kreisen und, kaum dass Ricky wieder auf seiner Einfahrt war, zu ihrem Fraß zurückzukehren. Die wissen besser als ich, was sie wollen, dachte Ricky frustriert. Er kehrte der Szene den Rücken und lief etwas wacklig, doch mit energischen Schritten, so dass er einiges an Staub aufwirbelte, zu seinem Haus, das zwar nur eine Viertelmeile entfernt lag, aber von der Straße aus nicht einzusehen war.
    Die meisten Neubauten auf dem Cape künden sowohl im Baustil als auch in der Lage von der Arroganz des Geldes. Große Eigenheime an jeden Hang, auf jede Landzunge geklatscht, um – koste es, was es wolle – ein Stück Meeresblick zu ergattern. Und wo kein Wasser zu haben ist, muss die Aussicht auf Lichtungen, auf Gruppen windgekrümmter Bäume reichen, die die Landschaft prägen. Neue Häuser werden grundsätzlich mit Aussicht konzipiert, egal auf was. Rickys Haus war anders. Vor über hundert Jahren erbaut, war es einmal eine kleine Farm gewesen und hatte somit an Felder gegrenzt. Die Fläche, auf der einstmals Mais angebaut wordenwar, gehörte jetzt zum Naturschutzgebiet, so dass das Anwesen abgeschieden lag. Das Haus schöpfte seinen Frieden aus seiner urtümlichen Verbundenheit mit dem Land, auf dem seine Fundamente ruhten, und nicht aus einem spektakulären Panorama. Inzwischen ein wenig schäbig und in die Jahre gekommen, hatte es eine gewisse Ähnlichkeit mit einem alten, ergrauten Veteran, der in den Ferien noch gerne seine Abzeichen trug und seine Zeit mit Nickerchen in der Sonne verbrachte. Das Haus hatte jahrzehntelang seine Pflicht erfüllt und genoss jetzt die wohlverdiente Ruhe. Es besaß nicht die Energie moderner Häuser, in denen Entspannung zu einem dringlichen Erfordernis wird.
    Ricky lief im Schatten unter den ausladenden Bäumen, bis der Weg aus dem Wäldchen führte und er das Haus am Rande eines offenen Feldes vor sich sah. Fast verwunderte es ihn, dass es noch stand.
    Er verharrte auf den Eingangsstufen, erleichtert, dass er wie erwartet den Ersatzschlüssel unter der losen grauen Steinplatte gefunden hatte. Er wartete einen Moment, schloss auf und trat

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