Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
Zeit für alles blieb. Die Sonne fiel durch die Windschutzscheibe, die Hitze strömte durch die geöffneten Seitenfenster ein. Es war die Tageszeit, in der die Menschen allmählich vom Strand aufbrechen, die Kinder aus der Brandung rufen, die Handtücher und Kühlboxen, die bunten Plastikeimer und -schaufeln einsammeln und sich auf den etwas beschwerlichen Rückweg zu ihrem Fahrzeug machen – ein Moment des Übergangs, vor der abendlichen Routine des Essens, eines Fernsehfilms, einesPartybesuchs oder einer stillen Mußestunde mit einem verknickten Taschenbuchroman. Es war die Zeit, in der Ricky in früheren Jahren eine warme Dusche genossen hatte, um danach mit seiner Frau über die ganz normalen Dinge des Lebens zu sprechen: er über ein besonders schwieriges Stadium mit einem Patienten, sie über einen Klienten, der sein Leben nicht umkrempeln konnte. Unscheinbare Momente, die Tage füllten und in ihrem stillen Miteinander einen schlichten, doch großen Reiz ausübten. Er erinnerte sich an diese Zeiten und fragte sich, wieso er in den Jahren seit ihrem Tod nicht daran gedacht hatte. Die Erinnerung machte ihn nicht traurig, wie es gewöhnlich der Fall war, wenn man sich einen toten Partner ins Gedächtnis rief, sondern tröstete ihn sogar. Er lächelte, da er sich zum ersten Mal seit Monaten, wie ihm schien, an den Klang ihrer Stimme erinnern konnte. Einen Augenblick kam ihm die Frage, ob sie damals an der Schwelle des Todes an dieselben Dinge gedacht hatte, nicht an die großen, außerordentlichen Ereignisse, sondern die unbeschwerten, gewöhnlichen Zeiten, die an Routine grenzten und die so schnell vergessen waren. Er schüttelte den Kopf. Vermutlich hatte sie es versucht, doch die Qualen, die der Krebs ihr bereitete, waren zu groß, und unter dem dämpfenden Einfluss des Morphiums war sie zu solchen Erinnerungen nicht mehr fähig gewesen, eine Erkenntnis, die Ricky schmerzte.
    Mein Sterben scheint anders zu sein, sagte er sich.
    Ganz und gar anders.
    Er bog zu einer Texaco-Tankstelle ab und hielt an den Zapfsäulen. Er stieg aus, holte die beiden Benzinkanister aus dem Kofferraum und füllte sie randvoll mit Normalbenzin. Ein halbwüchsiger Junge, der in dem Bereich mit Bedienung arbeitete, sah ihn und rief: »Hören Sie, Mister, wenn die für einen Außenbordmotor gedacht sind, sollten Sie genug Platzfür das Öl lassen. Manche nehmen eine Mischung von fünfzig zu eins, andere hundert zu eins, aber Sie müssen es direkt in den Kanister geben …«
    Ricky schüttelte den Kopf. »Ist nicht für einen Außenbordmotor, danke.«
    Der Junge gab nicht klein bei. »Die sind aber für einen Außenbordmotor.«
    »Klar«, sagte Ricky. »Aber ich besitze keinen.«
    Der Junge zuckte die Achseln. Wahrscheinlich war er kein Saisonarbeiter, sondern ein Highschool-Schüler aus der Gegend, der sich nicht vorstellen konnte, dass man diese Kanister zweckentfremden wollte, weshalb er Ricky vermutlich sofort in die Rubrik Sommergäste einordnete, die von den Bewohnern des Cape nur mit Verachtung gestraft wurden, war man doch der unerschütterlichen Überzeugung, dass die Typen aus New York oder Boston nicht die leiseste Ahnung von dem hatten, was sie trieben. Ricky bezahlte, packte die nunmehr vollen Kanister wieder in den Kofferraum – wobei selbst er begriff, wie gefährlich das war – und machte sich auf den Nachhauseweg.
     
    Er stellte seine Fracht vorübergehend im Wohnzimmer ab und kehrte in die Küche zurück. Er fühlte sich plötzlich wie ausgedörrt, als hätte er eine Menge Energie verbraucht, und er fand eine Flasche Quellwasser im Kühlschrank, die er sich hastig herunterspülte. Sein Herzschlag schien beschleunigt, als die letzten Stunden seines letzten Tages zur Neige gingen, und er mahnte sich, Ruhe zu bewahren.
    Ricky breitete die Briefumschläge und den Schreibblock vor sich auf dem Küchentisch aus, setzte sich, nahm einen der Kugelschreiber zur Hand und schrieb die folgende kurze Notiz:
An das Naturschutzamt:
     
    Bitte nehmen Sie die beigefügte Spende entgegen. Erwarten Sie nicht mehr, da ich nicht mehr geben kann und nach diesem Abend nicht mehr da sein werde, um es zu geben.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Frederick Starks, Dr. med.
    Dann nahm er einen Hundert-Dollar-Schein aus seinem Bündel, steckte ihn zusammen mit seinem Brief in einen der frankierten Umschläge und klebte ihn zu.
    Anschließend schrieb Ricky ähnliche kurze Briefe mit jeweils demselben Geldbetrag und steckte sie in die restlichen

Weitere Kostenlose Bücher