Der Patient
vielen Männer und Frauen, die sich zu dieser Sparte hingezogen fühlten, so faszinierte.
In diesem Moment jedoch stand Ricky inmitten des wachsenden Durcheinanders und fühlte sich wie ein Mann, der nach einem Wirbelsturm zum ersten Mal aus dem unterirdischen Bunker tritt. Es kam ihm so vor, als hätte er bis jetzt ganz einfach ignoriert, was für ein Chaos sein Leben war, bis diese Urgewalt hindurchfegte und sein sorgsam ausbalanciertes Gefüge aus den Angeln hob. Wahrscheinlich musste der Versuch, die Patienten aus mehreren Jahrzehnten sowie hunderte tägliche Therapien zu sichten, von vornherein scheitern.
Zumal ihm schon jetzt dämmerte, dass Rumpelstilzchen nicht darunter war.
Zumindest nicht in erkennbarer Form.
Ricky war sich absolut sicher, dass er den Kerl, der diesen Brief geschrieben hatte, wiedererkennen würde, falls er jemals zu einer Therapie von nennenswerter Dauer auf seiner Couch gelegen hatte. Der Ton. Der Stil. Sämtliche Spielarten von Ärger, Wut und Zorn. Für ihn wären diese Elemente so charakteristisch und unverwechselbar wie ein Fingerabdruck für einen Kriminalisten. Verräterische Eigenarten, die ihm nicht entgehen konnten.
Er wusste, dass diese These nicht eben bescheiden war. Und bevor er nicht einiges mehr über den Mann herausfand, hielt er es für keine gute Idee, Rumpelstilzchen zu unterschätzen. Mit Sicherheit konnte er allerdings sagen, dass kein Patient,den er je mit einer gewöhnlichen Analyse behandelt hatte, Jahre später so verändert, so zornig und verbittert in seiner Praxis auftauchen konnte, dass er nicht merkte, wer es war. Sie mochten zurückkehren und immer noch die inneren Wunden tragen, deretwegen sie überhaupt gekommen waren. Sie mochten enttäuscht sein und Theater machen, da die Analyse nun einmal nicht wie eine Art Antibiotikum auf die Seele wirkt; da sie nicht verhindern kann, dass sich ein paar Patienten den Bazillus lähmender Verzweiflung wiederholt einfangen. Sie mochten wütend sein, weil sie glaubten, Jahre mit Reden vergeudet zu haben, ohne dass sich etwas tat. All das war möglich, auch wenn es in Rickys nahezu dreißigjähriger Praxis nur wenige solche Fehlschläge gegeben hatte. Jedenfalls soweit er wusste. Doch er bildete sich nicht ein, dass jede Behandlung, egal wie lang sie dauerte, ausnahmslos vollkommen erfolgreich war. Notgedrungen waren manche Therapien weniger triumphal als andere.
Es war unvermeidlich, dass er einigen Menschen nicht hatte helfen können. Oder nur bedingt. Oder dass sie nach den Einsichten, die die Therapie ihnen vermittelt hatte, in ein früheres Stadium zurückfielen und sich bald wieder erdrückt und verzweifelt fühlten.
Rumpelstilzchen dagegen bot ein völlig anderes Persönlichkeitsbild. Der Tenor des Briefs wie auch die Botschaft an seine vierzehnjährige Großnichte sprachen für ein aggressives, berechnendes Profil und pervers übersteigertes Selbstvertrauen. Ein Psychopath, dachte Ricky – ein klinisches Etikett für einen Menschen, von dem er bislang nur eine verschwommene Vorstellung hatte. Das sollte nicht heißen, dass er über die Jahrzehnte seiner beruflichen Praxis nicht Menschen mit psychopathischen Neigungen behandelt hätte. Jedoch keinen, der einen solch abgründigen Hass und eine solche Fixierungan den Tag gelegt hätte wie Rumpelstilzchen. Und dennoch musste sich hinter dem Briefschreiber jemand verbergen, den er nicht gerade erfolgreich behandelt hatte.
Die Kunst, erkannte er, bestand darin herauszufinden, welche früheren Patienten dafür infrage kamen und ob diese dann zu Rumpelstilzchen führten. Denn nach mehreren Stunden intensiver Überlegung stand für ihn fest, dass hier die Verbindung liegen musste. Derjenige, der wollte, dass er sich das Leben nahm, war das Kind, der Ehepartner oder Liebhaber ei nes solchen Patienten. Somit, dachte Ricky angriffslustig, musste er sich als erstes in Erinnerung rufen, welcher Patient seine Behandlung in der labilsten Verfassung abgebrochen hatte. Sobald er ihn gefunden hatte, konnte er die Spur weiter zurückverfolgen.
Inmitten des heillosen Durcheinanders, das er angerichtet hatte, manövrierte er sich zu seinem Schreibtisch zurück und nahm Rumpelstilzchens Brief zur Hand.
Ich existiere irgendwo in Ihrer Vergangenheit.
Ricky bohrte den Blick in das Blatt, bevor er sich wieder seinen quer übers Zimmer verstreuten Notizstapeln widmete.
Na schön, sagte er sich. Die erste Aufgabe wird darin bestehen, meinen beruflichen Werdegang systematisch
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