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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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irritierend.«
    Er fragte sich, ob sein Neffe den falschen Ton heraushören würde. Er bezweifelte es. Der Mann war in Rage, erregt und empört und würde es vermutlich eine Zeitlang nicht merken, wenn Ricky die Wahrheit strapazierte. Timothy Graham reagierte nicht sofort. »Ich bring ihn um«, sagte er dann. »Mindy ist schon den ganzen Tag in Tränen aufgelöst. Sie ist davon überzeugt, dass da draußen jemand rumläuft, der sie vergewaltigen will. Sie ist gerade mal vierzehn geworden und hat in ihrem ganzen Leben noch keiner Fliege was zuleide getan, sie ist äußerst leicht zu beeinflussen, und sie ist noch nie mit solchem Schund konfrontiert worden. Bis gestern hat sie noch mit Teddybären und Barbiepuppen gespielt. Ich bezweifle, dass sie heute Nacht und in den nächsten Tagen viel Schlaf bekommt. Ich kann nur hoffen, dass die Angst sie nicht verändert hat.«
    Ricky sagte nichts, und der Geschichtsprofessor fuhr nach einer Atempause fort: »Ist das möglich, Onkel Frederick? Du bist doch verdammt noch mal der Spezialist auf dem Gebiet. Kann sich das Leben für einen so schnell ändern?«
    Wieder antwortete er nicht, doch die Frage hallte in seinem Innern nach.
    »Es ist schrecklich, weißt du. Einfach schrecklich«, brach es aus Timothy Graham heraus. »Da setzt du alles daran, deine Kinder davor zu schützen, wie krank und böse diese Welt im Grunde ist, und dann bist du einen Moment nicht auf der Hut und patsch, hat’s dich erwischt. Das mag nicht der schlimmsteFall sein, wie jemand seine Unschuld verliert, du hast bestimmt schon Schlimmeres gehört, Onkel Frederick, aber schließlich nicht von deiner geliebten kleinen Tochter, die keiner Menschenseele was getan hat und sich an ihrem vierzehnten Geburtstag die Augen ausheult, weil ihr irgendjemand irgendwo Leid zufügen will.«
    Und mit diesen Worten legte der Geschichtsprofessor auf.
     
    Ricky Starks lehnte sich an seinem Schreibtisch zurück. Mit einem langen Pfeifton ließ er die Luft durch die Zähne entweichen.
    Irgendwie war er von dem, was Rumpelstilzchen getan hatte, zugleich aufgebracht und fasziniert. Er sondierte seine Informationen. Die Botschaft, die Rumpelstilzchen dem jungen Mädchen geschickt hatte, war alles andere als spontan, sondern in ihrer Wirkung eiskalt kalkuliert. Offenbar hatte er auch einige Zeit investiert, um dieses Kind auszukundschaften. Darüber hinaus sprach seine Vorgehensweise für ein paar Fähigkeiten, die Ricky, wie er vermutete, im Auge behalten sollte. Rumpelstilzchen war es gelungen, am Sicherheitsdienst der Schule vorbeizukommen, und er besaß die Fertigkeit eines Einbrechers, ein Schloss aufzusperren, ohne es zu beschädigen. Er hatte es geschafft, die Schule ebenso unentdeckt zu verlassen, und sich in West Massachusetts sofort auf den Highway nach New York begeben, um seine zweite Botschaft in Rickys Wartezimmer zu hinterlegen. Das Timing war nicht weiter schwierig; die Fahrt war nicht lang, vielleicht vier Stunden. Doch es sprach für eine sorgfältige Planung.
    Aber das war es gar nicht mal, was Ricky zu schaffen machte. Wieder rutschte er unruhig auf seinem Sitz herum.
    Die Worte seines Neffen schienen in der Praxis nachzuhallen, als würden sie wie ein Spielball zwischen den Wänden hinund her geworfen, als strahlten sie heiß in den Raum dazwischen aus:
verlorene Unschuld
.
    Ricky dachte über diese Worte nach. Manchmal sagte ein Patient im Verlauf einer Sitzung etwas, das eine elektrifizierende Wirkung hatte, weil es sich dabei um Momente des Verstehens, um Erkenntnisblitze handelte, um Einsichten, bei denen es nur so knisterte und die den Durchbruch versprachen. Das waren die Momente, um die es jedem Analytiker ging. Gewöhnlich hatten sie etwas Abenteuerliches, überaus Befriedigendes an sich, weil sie auf dem langen Behandlungsweg Erfolg signalisierten.
    Diesmal nicht.
    Zusammen mit der Angst kroch Ricky unabweislich die Verzweiflung den Rücken hoch.
    Rumpelstilzchen hatte seine Großnichte in einem Moment kindlicher Verletzlichkeit attackiert. Er hatte sich dazu einen Zeitpunkt gewählt, der im Gefüge der Erinnerungen als freudiger Aufbruch hätte haften bleiben sollen – den Zeitpunkt ihres vierzehnten Geburtstags. Und dann hatte er ihn ins Hässliche und Furchterregende verkehrt. Die Bedrohung hätte kaum tiefgreifender und provozierender sein können.
    Ricky fasste sich an die Stirn, als fieberte er plötzlich. Es verwunderte ihn, dass er nicht schwitzte. Mit etwas Bedrohlichem, überlegte er,

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