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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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er mittags das Haus, nahm dieselbe Route, setzte die Füße auf dieselben Bürgersteigplatten und atmete in regelmäßigen Zügen dieselbe dicke Stadtluft ein wie an jedem anderen Tag. Heute allerdings schien jeder seiner Schritte nachzuhallen, und mehr als einmal musste er der Versuchung widerstehen, herumzuschnellen und zu sehen, ob ihm jemand folgte. Als er endlich wieder bei seiner Wohnung angekommen war, atmete er erleichtert durch.
    Die Nachmittagspatienten verhielten sich, wie nicht anders zu erwarten, nach dem gleichen Muster wie die am Morgen. Ein paar von ihnen legten eine gewisse Angst und Ungewissheitan den Tag. Die regelmäßigen fünfzigminütigen Sitzungen stellten für sie eine nachhaltige Routine dar, und einige von ihnen beunruhigte es, auch nur für kurze Zeit auf diesen Halt zu verzichten. Dennoch wussten sie so gut wie er, dass diese Wochen nicht ewig dauerten und dass – wie alles in der Analyse – auch die Pausen von der Couch zu Einsichten über den Fortgang verhalfen. Alles, jeder Augenblick, jedes tagtägliche Einerlei des Lebens, konnte zu einer Erkenntnis führen. Diese Tatsache machte die Arbeit für Patient und Therapeut so interessant.
    Eine Minute vor fünf sah er aus dem Fenster. Draußen, außerhalb der Praxis, war es immer noch ein heißer Tag: strahlende Sonne und Temperaturen über dreißig Grad. Die Hitze der Stadt war beharrlich, als erwarte sie Anerkennung. Er lauschte auf das Surren der Klimaanlage und erinnerte sich plötzlich, wie damals in den ersten Jahren ein offenes Fenster und ein klappriger, stotternder Ventilator das Einzige waren, was er der stickigen, lähmenden Hitzeglocke über der hochsommerlichen Stadt entgegenzusetzen hatte. Manchmal hätte man meinen können, sämtliche Luft sei verbraucht.
    Als er die drei Klingelzeichen hörte, riss er sich vom Fenster los. Er rappelte sich auf und ging zur Tür, um den ungestümen Mr. Zimmerman hereinzulassen. Zimmerman hasste es, im Vorzimmer zu warten. Er erschien Sekunden vor Beginn der Sitzung und erwartete, dass man ihm sofort öffnete. Einmal hatte Ricky ausgespäht, wie der Mann an einem bitterkalten Wintertag vor dem Wohnblock ungeduldig auf und ab marschiert war und dabei wütend alle paar Sekunden auf die Uhr gesehen hatte, als habe er die Zeit mit seinem Willen beschleunigen wollen, damit er bloß nicht drinnen warten musste. Bei mehr als einer Gelegenheit hatte sich Ricky versucht gefühlt, den Mann ein paar Minuten stehen zu lassen, um beiihm einen Denkprozess darüber in Gang zu bringen, weshalb ihm Präzision so wichtig war. Doch er hatte es nicht getan. Stattdessen hatte Ricky jeden Tag Punkt fünf Uhr nachmittags die Tür weit aufgerissen, damit der wütende Mann ins Sprechzimmer donnern, sich auf die Liege werfen und seinem Sarkasmus und Zorn über all das Unrecht Luft machen konnte, das er an diesem Tag erduldet hatte. Ricky atmete jedesmal tief durch, bevor er öffnete, und setzte sein bestes Pokerface auf. Egal ob Ricky sich gerade fühlte, als hätte er ein Full House auf der Hand oder aber ein mieses Blatt, er trat ihm täglich mit derselben unverbindlichen Miene entgegen.
    »Guten Tag«, sagte er, sein Standardgruß.
    Doch im Wartezimmer war nicht Zimmerman.
    Stattdessen sah sich Ricky plötzlich einer imposanten jungen Frau gegenüber.
    Sie trug einen langen, schwarzen Regenmantel mit Gürtel, der ihr bis auf die Schuhe reichte, an diesem heißen Sommertag höchst deplaziert, dazu eine dunkle Sonnenbrille, die sie jetzt abnahm, so dass durchdringende, lebhafte grüne Augen zum Vorschein kamen. Er schätzte sie auf Anfang bis Mitte dreißig. Eine attraktive Frau in der Blüte ihrer Jahre, die den Eindruck machte, als könnte sie nichts mehr auf der Welt überraschen.
    »Verzeihung …«, sagte Ricky unsicher. »Aber …«
    »Ach«, erwiderte die Frau abschätzig und schüttelte ihr schulterlanges, blondes Haar, während sie graziös mit der Hand abwinkte. »Zimmerman kommt heute nicht. Ich komme an seiner Stelle.«
    »Aber er …«
    »Er braucht Sie nicht mehr«, fuhr sie fort. »Er hat exakt um vierzehn Uhr siebenunddreißig beschlossen, seine Behandlung zu beenden. Kurioserweise befand er sich gerade in derU-Bahn-Station in der Zweiundneunzigsten, als er nach einem äußerst kurzen Wortwechsel mit Mr. R. zu dieser Entscheidung gelangte. Mr. R. konnte ihn davon überzeugen, dass er Ihre Dienste nicht länger in Anspruch nehmen wollte oder sollte. Und zu unser beider Überraschung ist Zimmerman

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